Molay
12.08.2004, 22:15
Die Ursachen des Russlandfeldzuges 1941
Um übergroße Erwartungen zu dämpfen, sei einleitend begründet, warum die Frage nach den Ursachen des "Rußlandfeldzugs" wohl nahezu unbeantwortbar ist.
Der erste Grund wird deutlich, wenn wir, als Beispiel, nach den Ursachen des Zweiten Punischen Krieges suchen. Die Historiker sind sich noch nach 2200 Jahren nicht einig, wer den Krieg gewollt hat: Hannibal, Karthago oder Rom.[i] Fragen nach Kriegsursachen scheinen prinzipiell schwer beantwortbar zu sein.
Die zweite Schwierigkeit ergibt sich daraus, dass die Frage nach den Kriegsursachen 1939 und 1941 hochgradig emotionalisiert, moralisiert und politisiert ist. Hierzu brauchen wir nur betrachten, wie die ersten Veröffentlichungen behandelt wurden, die eine alleinige Schuld Deutschlands am Russlandfeldzug "kritisch hinterfragten" - was in anderen Bereichen als fortschrittlich gilt. Diese Schriften erschienen vor oder um 1985.[ii] Doch sogleich antwortete DIE ZEIT mit ganzseitigen Artikeln unter der Überschrift "Verteidigungslügen - Warum die Mär vom Präventivkrieg wiederbelebt wird".[iii] Das ist exakt der Ton der mittelalterlichen, der stalinschen sowie der hitlerschen Inquisition. Die Wahrheit ist offenbart und mithin offenbar. Wer das Offenbare anzweifelt, kann nicht irren, sondern muss verstockt oder böse sein. Ein Historiker braucht sich mit den a priori verfehlten Argumenten nicht auseinanderzusetzen. Er braucht nur aufzudecken, "warum" der Autor die "Mär" und die "Lügen" (DIE ZEIT) wiederbelebt. Und natürlich verfällt der Bösewicht dem Gericht - im Mittelalter war er Ketzer, unter Stalin Trotzkist, unter Hitler Volksschädling und heute Revisionist. Ketzer, Trotzkisten und Volksschädlinge bedrohte der physische, Revisionisten bedroht heute der bürgerliche Tod. Seine Stimme wird gern unterdrückt.
Unvollständige und getrübte Quellen.
Der dritte und wichtigste Grund, warum die Frage nach den Kriegsursachen 1941 nahezu unbeantwortbar ist, ergibt sich aus dem Vergleich der Quellen für Urteile über die Ursachen des Ersten und des Zweiten Weltkriegs.
Zum Ersten Weltkrieg: Schon wenige Jahre nach dem Krieg hatten fast alle Hauptbeteiligten beider Seiten ihre Sicht in Memoiren geschildert.[iv] Zudem hatten alle Nationen vielbändige Aktenpublikationen auf den Weg gebracht. Und schließlich gab es noch lange die Möglichkeit, die Hauptakteure zu befragen. Die Quellenlage war also vorzüglich. Dennoch besteht auch heute keine Einigkeit, wo die Hauptursachen des Krieges lagen und wie sie zwischen den beteiligten Staaten verteilt waren.
Anders die Quellenlage für den deutsch-russischen Krieg. Die deutschen Hauptakteure haben den Krieg nicht überlebt oder sie konnten sich nur im Angesicht des Nürnberger Galgens äußern - kein günstiger Ort für eine gelassene Darstellung. Es bleiben die deutschen Akten. Doch diese sind viele Jahre im Besitz der Sieger gewesen. Die damit verbundene Problematik wird nirgends angesprochen, also ist etwas Ausführlichkeit notwendig.
Nachweisbar ist, dass die Briten ihre eigenen Archive schon bei drittrangigen - drittrangigen! - Fragen gesäubert haben. So wurde nach dem Ersten Weltkrieg entfernt, was die beabsichtigte Hochbewertung des britischen Oberbefehlshabers in Frankreich, des Feldmarschalls Haig, behindert hätte.[v] Auch die Akten über die Tötung einer deutschen U-Bootbesatzung (Fall Baralong) und über die Erfindung deutscher Kriegsverbrechen in Belgien wurden gesäubert.[vi]
Die Aktenmanipulation wurde nach dem Zweiten Weltkrieg fortgesetzt. Wiederum nur als Beispiel: Akten wurden vernichtet, die geklärt hätten, wie es zur Auslieferung der Wlassow-Kosaken, zusätzlich des deutschen Rahmenpersonals und sogar jener uralten Weißrussen gekommen ist, die nie Untertan der Sowjetunion gewesen waren und längst eine andere Staatsangehörigkeit besaßen.[vii] Schließlich wurden viele derjenigen Akten vernichtet, die gezeigt hätten, weshalb die englische Regierung die Kontaktversuche des deutschen Widerstandes zurückgewiesen oder unbeantwortet gelassen hat.[viii]
Wenn die Briten so bei drittrangigen Fragen mit ihren eigenen Akten umgingen, ist die Frage berechtigt, wie sie mit den erbeuteten deutschen Akten umgingen, insbesondere dort, wo diese Akten erstrangige Fragen betrafen. In der Tat: Akten über die Ermordung deutscher Schiffbrüchiger im Zweiten Weltkrieg sind sogar nach Aussage des britischen Außenministeriums vernichtet worden.[ix] Die deutschen Dokumente über Kontaktversuche zu den Alliierten im Winter 1939/40 "went missing when they were in Allied hands after the war", gingen verloren, als sie nach dem Krieg in alliierter Hand waren.[x] Allerdings "gingen" sie nicht verloren, weil sie keine Beine hatten. Jemand muss muss am Werk gewesen sein. Noch wichtiger: Schon beim Nürnberger Prozeß soll die Anklage deutsche Dokumente vorgelegt haben, die nicht einmal die dortigen "Richter" als Beweisstück akzeptiert haben.[xi] Bei den Nürnberger Folgeprozessen wurde Generalarzt Professor Dr.Rose aufgrund gefälschter Dokumente verurteilt.[xii] Weiterhin haben die Sieger bei Kriegsverbrecherprozessen deutsche Dokumente in bemerkenswerter Weise selektiv verwendet und später nur selektiv zurückgegeben.[xiii] Sogar das Militärgeschichtliche Forschungsamt der Bundeswehr - oft wegen politischer Korrektheit kritisiert - wirft dem Münchener Institut für Zeitgeschichte vor, eine von den Alliierten gefälschte Ansprache des Chefs des Generalstabes, Generaloberst Halder, als echt zu deklarieren.[xiv] Das berühmt-berüchtigte "Hoßbach-Protokoll" ist als das "most famous" und zugleich umstrittenste Dokument der NS-Zeit bezeichnet worden, weil Überlieferung und Zustand rätselhaft sind; Manipulation ist mindestens möglich.[xv]Schließlich ist anzumerken, dass möglicherweise auch die französischen und die belgischen Archive gesäubert worden sind.[xvi]
Bei allen diesen Aktionen ist wohl anzunehmen, dass nicht Sekretärinnen oder Amtsboten, sondern gewichtigere Kräfte mit gewichtigen Motiven am Werk gewesen sind - und niemand weiß, was sie sonst noch manipuliert haben.
Nebenbei: Wenn in einem Zivilprozeß die Akten der einen Partei jahrzehntelang im Besitz der Gegenpartei gewesen sind, wird vermutlich jeder Amtsrichter urteilen, es sei notwendig, den Zustand der Akten der benachteiligten Partei zu klären. Doch eine systematische Untersuchung des Schicksals der deutschen Akten auf Vollständigkeit und mögliche "Ergänzungen" ist im Klima der Bundesrepublik nahezu unvorstellbar. Für den Suchenden gibt es nur Zufallsfunde, die vermutlich das Ganze nicht aufdecken.
Zur sowjetischen Quellenlage: Es gibt einige Memoiren, meist von Generalen.[xvii] Aber die Verfasser mussten im Sowjetregime wohl vorsichtig sein. Folglich beurteilen auch unverdächtige Autoren die Behandlung politisch sensitiver Fragen sehr ungünstig.[xviii] Die Archive waren bis 1991 geschlossen. Sie sind auch seitdem nur teilweise und nur zeitweise geöffnet worden; wichtige Archive wie das Präsidialarchiv Stalins sind überhaupt nie zugänglich gewesen.[xix] Gewichtig tritt hinzu: Sogar Valentin Falin, engagierter Verfechter der These eines grundlosen deutschen Überfalls gibt zu, dass die sowjetischen Archive gelegentlich umfassend gesäubert worden sind.[xx] Mithin wird sogar in der deutschen Presse von "systematischer Spurenverwischung" gesprochen.[xxi]
Der Schluss ist unvermeidbar: Die Quellenlage für die Ursachen des Krieges 1941 ist bei beiden Parteien entscheidend schlechter als wohl für jeden Krieg der europäischen Neuzeit. Normalerweise gäbe es für Historiker nur den Schluss: Es ist unmöglich, mehr als Wahrscheinlichkeiten aufzuzeigen.
Im Folgenden wird aufgezeigt, was dem Verfasser dieser Studie wahrscheinlich dünkt. Dabei wird die sowjetische Seite ausführlicher als die deutsche behandelt. Das ist methodisch anfechtbar. Der Verfasser rechtfertigt es mit zwei Gründen:
Begrenzung von Raum sowie Zeit
und damit, dass die These eines grundlosen deutschen Überfalls Medien und Schulbücher füllt, also weitgehend bekannt ist.
Die Entwicklung der Roten Armee
Betrachtet man die Entwicklung der Roten Armee, so fällt ins Auge, dass Sowjetrussland schon in seiner Geburtsstunde bedroht war - erst von deutschen, dann masiv von polnischen und alliierten Truppen. Polen und die Alliierten drangen tief in den Kaukasus, in Nordrußland, Westrussland und in Sibirien ein. Am Ende des Bürgerkrieges hatte das Land buchstäblich von Murmansk bis Wladiwostok nur noch blutende Grenzen: Finnland - die drei baltischen Staaten - Polen - vor Rumänien war Bessarabien verlorengegangen - jenseits des Schwarzen Meeres hatte sich Georgien lösen wollen, und jenseits des Kaspischen Meeres waren die südsibirischen Fürstentümer, Tannu Tuwa, die Mongolei und die Grenze zu China umkämpft gewesen. Der Aufbau einer starken Verteidigungsarmee musste also notwendig erscheinen, zumal die Ideologie einen Endkampf zwischen dem sozialistischen und dem kapitalistischen Lager vorhersagte.
Der Umschwung von einer Verteidigungs- zu einer Angriffsarmee beginnt 1930 mit der Aufstellung der ersten Panzerbrigade.[xxii] 1932 werden die Leningrader 11. und die Kiewer 45.Infanteriedivision zu Mechanisierten Armeekorps von je 500 Panzern und 250 weiteren gepanzerten Fahrzeugen umgegliedert.[xxiii] Damals gab es auf der gesamten Welt noch keine gepanzerten Brigaden, Divisionen oder gar Armeekorps.
Zur gleichen Zeit werden die Konstruktionsbedingungen für das rollende Eisenbahnmaterial geändert. Zukünftig dürfen nur noch Waggons gebaut oder beschafft werden, die rasch von der russischen Breit- auf die mitteleuropäische Spur umgebaut werden können. Die Bahnmeistereien erhalten Anweisungen, wie hoch und wie breit sie russische Waggons beladen dürfen, die auf mitteleuropäischen Strecken fahren sollen.[xxiv] Das konnte nur einen Zweck haben: Stalin wollte seine Armee bis ins Herz Europas hinein versorgen können.
Man muss im Auge behalten, dass die russische Industrie 1914 nur wenig entwickelt gewesen war. Dann hatten Krieg und Bürgerkrieg weite Landesteile verwüstet. Viele Angehörige der technischen Intelligenz waren geflohen oder umgekommen. Mithin wurden noch Ende der zwanziger Jahre jährlich weniger als 1000 PKW und LKW gebaut.[xxv] Doch ausgerechnet in diesem bettelarmen Land verwendet Stalin riesige Mittel, um nicht etwa eine Verteidigungs-, sondern um eine gewaltige Offensivarmee aufzubauen. Im Folgenden werden nur Zahlen für Panzer genannt, doch Zahlen für Divisionen, Geschütze oder Flugzeuge würden ein ähnliches Bild zeigen. Vor allem aber: Der Panzer war schon damals für die Verteidigung wünschenswert, vielleicht erforderlich. Aber für weiträumige Offensiven war er schon unverzichtbar. Panzerlastigkeit ist also ein starkes Indiz für die Planung einer offensiven Strategie.
Deshalb noch eine Vorbemerkung: Manch ein Autor versucht, den Aufbau einer Offensivarmee mit einem Hinweis auf die sowjetische Militärdoktrin zu rechtfertigen. Die Strategie sei defensiv gewesen. Aber wenn Russland überfallen wird, sollte der Krieg ins Land des Gegners getragen werden.[xxvi] Doch dem ist entgegenzuhalten, dass wohl noch nie eine Strategie darauf beharrt hat, den Krieg im eigenen Land zu führen. Im übrigen hat Stalin wahrlich nicht auf einen Überfall des Gegners gewartet, als er 1939/40 erst Polen, dann Finnland angriff, in die drei baltischen Staaten sowie in Bessarabien einmarschierte und 1945 Japan angriff.
Den 1932 aufgestellten zwei MechArmeekorps folgen bis 1939 mindestens zwei, nach anderen Autoren fünf weitere.[xxvii] Dann schließen Stalin und seine Berater aus dem spanischen Bürgerkrieg, dass große Panzerverbände nicht zu handhaben sind. Also lösen sie die vier (oder sieben?) panzerstarken Armeekorps 1939 auf - an ihre Stelle treten 15 Panzerdivisionen. Doch der deutsche Polen- und Frankreichfeldzug zeigen den Fehler. Schon im Juli 1940 befiehlt Stalin die Neuformierung von 9 MechKorps, deren jedes mit nun über 1000 Panzern[xxviii] unerhört panzerschwer war. Die Aufstellung weiterer Korps (11 ? 21 ?) wird 1941 befohlen, konnte aber bis zum deutschen Russlandfeldzug wegen Mangels an Panzern und Fachpersonal nicht abgeschlossen werden.[xxix] Schon die Panzer in den genannten Armeekorps ergeben gigantische Zahlen. Zudem verwendete die Rote Armee zahlreiche Panzer in selbständigen Truppenteilen, 1940 (zusätzlich zu den damals vorhandenen 15 Panzerdivisionen von je 275 Panzern) 35 PzBrigaden zu je 258 und 4 PzBrigaden zu 156 Panzern sowie 20 PzRegimentern bei Kavallerie- und 98 PzBataillonen bei Infanteriedivisionen.[xxx]
Bevor die Zahlen genannt werden, eine Vorbemerkung. Die Literatur nennt meist "Panzer", was so hieß. Doch die Wehrmacht - und praktisch nur diese - nannte Panzer auch, was nur eine 20mm-Kanone (Pz II) oder sogar nur Maschinengewehre (Pz I) trug. Diese MG-Träger waren für den Kampf gegen Feindpanzer nicht zu verwenden.[xxxi] Also werden sie bei den folgenden Zahlen gesondert aufgeführt. Um einen Maßstab für die nun zu nennenden sowjetischen Panzerzahlen zu geben: Die Wehrmacht ist mit 2650 Panzern und 1000 MG-Trägern in Russland einmarschiert.
Den Panzerbestand der Roten Armee 1932 gibt Marschall Shukow mit 5000 an.[xxxii] 1936 läßt Stalin bei einer einzigen Parade bereits 1000 Panzer vorbeimarschieren.[xxxiii] 1939 kommt es dann zu einem skurrilen Ereignis: England, Russland und Frankreich verhandeln in Moskau über einen Militärpakt gegen Deutschland. Stalin bietet für den Bündnisfall 10 000 Panzer und zudem 120 Infanterie- und 16 Kavalleriedivisionen sowie 5000 Flugzeuge an. Dann fragt Marschall Woroschilow, was England zu bieten habe. Doch die Briten weichen aus, bieten Worte statt Zahlen. Der Russe bleibt unerbittlich. Die Briten müssen schließlich bekennen: sie haben sechs Divisionen zu bieten.[xxxiv] Kein Wunder, dass die Verhandlungen scheitern. Doch wie es zum Hitler-Stalin-Pakt gekommen ist, gehört nicht in diese Studie.
Anfang 1940 hat die Sowjetunion dann um 18 000 Panzer, dabei etwa 3000 veraltete. Für den Juni 1941 schwanken die sowjetischen Angaben zwischen 21 000 und 24 000 Panzern.[xxxv] Die Wehrmacht hatte insgesamt 3700, zusätzlich knapp 2000 MG-Träger. Sie hat Russland mit 2650 Panzern und etwa 1000 MG-Trägern "überfallen".[xxxvi] Wer Qualitätsunterschiede einrechnen will: Die deutschen Panzer hatten eine bessere Funkausstattung, wichtig für das Zusammenwirken auf dem Gefechtsfeld. Hingegen befanden sich unter den mehr als 20 000 sowjetischen Panzer schon 1850 T34 und KW1.[xxxvii] Diese waren für alle deutschen Panzer fast unverwundbar, konnten aber jeden deutschen Panzer auf 800 Metern abschießen.[xxxviii]
Insgesamt hatte Russland 1941 mindestens doppelt, wenn nicht dreimal mehr Panzer als die gesamte übrige Welt zusammen. Nur mit Dreistigkeit kann man hierbei von einer Verteidigungsarmee sprechen. Diese Bewertung wird durch weitere Maßnahmen bestätigt. 1940 läßt Stalin Luftlande-Armeekorps aufstellen - wiederum die ersten der Welt. Und zwar gleich fünf.[xxxix] Im Sommer 1941 weitere fünf.[xl] Und schließlich läßt Stalin im Frühjahr 1941 in der Ukraine vier Infanterie- in Gebirgsdivisionen umgliedern und verlegt die kaukasische 192. Gebirgsdivision in die Ukraine.[xli] Doch in der Ukraine gibt es keine Gebirge, wohl aber, mit den Karpathen, in Ungarn und Rumänien.
Hier ist wiederum eine Zwischenbemerkung notwendig. Viele Historiker legen heute dar, dass Hitler 1941 einen unbedingt friedenswilligen Stalin grundlos überfallen hat. Doch diese These wird durch die ungeheure, durch Panzermassen und Luftlandetruppen auf weitreichende Offensiven programmierte Roten Armee gestört. Zudem muss Stalin für den Aufbau einer solchen Armee ein Motiv gehabt haben - welches wohl? Und schließlich war unwahrscheinlich, dass Stalin seine unter großen Opfern aufgebaute Armee untätig in den Kasernen lassen würde, wenn er eine Gefahr wahrnahm. Oder wenn er eine Gelegenheit zum Beutemachen sah - so wie 1939 in Polen und Finnland, 1940 in den drei baltischen Staaten und 1945 in Fernost.
Also drängen jene Historiker den Aufbau und den Umfang dieser Armee weit in den Hintergrund oder verschweigen das sowjetische Militärpotential sogar ganz und bezeichnen die Rote Armee einfach als "schlecht ausgerüstet".[xlii] Das ermöglicht, darzulegen, Stalin habe 1940/41 "verzweifelt" versucht, Hitler zu besänftigen, weil er wusste, dass seine Armee zu schwach sei.[xliii]
Stalins Zwangslage und Pläne
Damit zu der Frage, was Stalin 1940/41 beabsichtigte. Allerdings wird die Frage nach den Kriegsursachen heute meist als Frage nach der Kriegs-"Schuld" gestellt. Dafür gibt es Gründe. Aber damit fällt ein mit moralischen Kategorien kaum fassbarer Faktor aus der Betrachtung heraus. Konkret: Seit 1939 musste jeder Herrscher Russlands, ob Zar oder Stalin sich fragen, wie seine Lage beim Ende des deutsch-britischen Krieges sein werde. Die Antwort war leicht - und zugleich unheildrohend. Schon nach einem Remisfrieden im Westen würde Hitler die gesamte Macht seines Imperiums gegen Russland werfen können. Stalin musste befürchten, dass Hitler das auch tun werde. Aus ideologischen Gründen. Und um Lebensraum zu gewinnen. Stalin mag nicht gewusst haben, dass im Ersten Weltkrieg, also kaum mehr als 20 Jahre zuvor, 763 000 Deutsche an Unterernährung gestorben oder schlicht verhungert waren.[xliv] Aber die hieraus abgeleitete Lebensraumtheorie dürften ihm seine Berater vorgetragen haben.
Weiteres kam hinzu. Die Deutschen publizierten 1940 erbeutete französische Akten. Diese zeigten, dass der deutsche "Überfall" auf Norwegen dem alliierten Überfall nur um Haaresbreite zuvorgekommen war.[xlv] Weiterhin belegten sie, dass nur der deutsche Sieg 1940 Engländer und Franzosen gehindert hatte, die russischen Ölfelder im Kaukasus und die Öltanker im Schwarzen Meer anzugreifen, um Öllieferungen an Hitler zu erschweren.[xlvi] Stalin wusste also, wie die Alliierten Neutralität und Völkerrecht werteten, wenn sie ihnen im Wege standen. Er musste zudem annehmen, dass die Westmächte ihm nicht helfen würden, sollte er nach einem deutsch-britischen Ausgleich mit Hitler handgemein werden. Und schließlich drohte Russland auch aus Fernost Gefahr. Noch im Herbst 1939 hatten sich Russen und Japaner an den Grenzen der Mongolei erbitterte Gefechte geliefert.[xlvii]
Hitlers Imperium und vielleicht zudem Japan allein gegenüberzustehen, war keine verlockende Aussicht. Stalin konnte also glauben, er müsse Deutschland in den Rücken fallen, solange es noch teilweise gegen England und die USA gebunden war. Das hat mit der moralischen Kategorie der Schuld wenig zu tun, um so mehr aber mit dem Überlebenswillen Russlands.
Die Folgerungen, die Stalin zog, lassen sich aus seinen Handlungen ablesen. Im September 1939 nimmt er den Polen die ost"polnischen", in Wahrheit vorwiegend weißrussischen und ukrainischen, 1920 von Polen eroberten Gebiete wieder ab. Aber die eingesetzten 21 Divisionen bleiben in dem gewonnenen Räumen und aus Innerrußland rücken Truppen in die nun freien westrussischen Räume nach.[xlviii]
Im Sommer 1940 stehen in Westrussland 100 russische Divisionen, die sich von den wenig kampfkräftigen ungarischen und rumänischen Truppen wohl kaum beeindrucken lassen. Hingegen stehen im Osten des Reiches ganze sechs, anderen Autoren zufolge nur vier Divisionen,[xlix] denn die Wehrmacht ist durch den Frankreichfeldzug gebunden. Stalin nutzt die Gelegenheit sofort. Er marschiert in den drei baltischen Staaten ein. Die Finnen bedrängt er trotz des eben gerade, nach dem "Winterkrieg", geschlossenen Friedens mit neuen, ultimativ vorgetragenen und Finnlands Existenz bedrohenden Forderungen.[l] Rumänien zwingt er bald zur Abtretung Bessarabiens. Nach dem deutschen Sieg in Frankreich tritt wieder Ruhe ein. Doch das ist eine fragwürdige Ruhe, denn niemand weiß, was Stalins hundert Divisionen getan hätten, wenn der Frankreichfeldzug sich festgefahren hätte.
Im Frühjahr 1941 lässt Stalin dann eine Reihe von bemerkenswerten Maßnahmen durchführen
"Die Sowjetunion veränderte die Haltung gegenüber Deutschland auf taktischer Ebene ... durch einen Konfrontationskurs, der jedoch kein Kriegsrisiko einschloß."[li] Konkret: Die Sowjetunion nimmt erstmals diplomatische Beziehungen zu Jugoslawien auf, schließt demonstrativ im April 1941 einen Freundschaftspakt mit Jugoslawien, stachelt die Bulgaren auf, die 1913 verlorene Dobrudscha von Rumänien sowie das an Griechenland verlorene Ost-Thrazien zurückzufordern und setzt die Türkei sowie Rumänien weiter unter Druck. Der ganze Balkan gerät in Unruhe - und niemand weiß, wohin die Entwicklung führen wird, zumal Hitler, besorgt um das rumänische Öl, Stalin entgegentritt und auch England kräftig mitmischt.[lii]
Bereits 1939 war die dreijährige Wehrpflicht eingeführt und die Rüstung durch Arbeitspflicht, Drei-Schichtenbetrieb und Siebentagewoche noch weiter hochgetrieben worden.[liii] Nun werden die Streitkräfte durch eine Teilmobilmachung - Einberufung von 800 000 Reservisten weiter verstärkt[liv]
Stalin sichert das Operationsgebiet, indem er die gesamte Führungsschicht der Esten, Letten, Litauer und Ostpolen deportiert oder gleich ermorden lässt
In den vier westlichen Militärbezirken versammelt Stalin insgesamt 170,[lv] nach anderen Darstellungen 191 Divisionen. Zum Vergleich: Deutschland hat Russland mit etwas über 150 Divisionen angegriffen
Hinter den genannten wenigstens 170 Divisionen marschiert im Juni eine zweite strategische Staffel von 50, nach anderen Darstellungen 66 Divisionen auf, die aus dem Transbaikal und aus dem Kaukasus herangeführt werden
Hinter der zweiten strategischen Staffel werden vier Reservearmeen aufgestellt; mithin spricht sogar Gorodetsky von insgesamt 240 Divisionen, die die Westfront Russlands "absichern" sollen.[lvi]
Wer das alles als Verteidigungsvorbereitungen deutet, muss übersehen, dass der Aufmarsch der russischen ersten strategischen Staffel früher durchgeführt wurde und bis in den März 1941 erdrückend mehr Kräfte umfasste als der Aufmarsch für "Barbarossa":
Während des Frankreichfeldzugs stehen im Osten vier (oder sechs?) zweitklassige, erst 1939 mobilgemachte Divisionen 100 russischen Divisionen gegenüber
Im Juli 1940 wird die 18.Armee - 26 Divisionen - in den Osten verlegt
Im Oktober 1940 folgt die 12.Armee. Sie wird zusammen mit der 18.Armee der Heeresgruppe B unterstellt, die nun über 33 Divisionen verfügt
Im März 1941 stehen dann 47 Divisionen im Osten des Reiches - und erst dann beginnt der Truppenaufmarsch für Barbarossa
Erst im Juni wird das deutsche Ostheer mit der Zuführung von 12 Panzer- und 12 Motorisierten Infanteriedivisionen angriffsfähig.[lvii]
Insgesamt: Der deutsche Aufmarsch war bis in den März/April 1941 Reaktion, nicht Aktion. Die Deutung des russischen Aufmarsches als Offensivaufmarsch wird durch Weiteres bekräftigt:
Viele der Truppen mussten in die Wälder gelegt werden. Dort aber konnte man sie nicht unbeschränkt liegen lassen, ohne einen scharfen Abfall der Kampffähigkeit und Ausbildung zu riskieren
Ein bezeichnendes Detail: Die Dnjepr-Flottille (1 Abteilung Schnellboote, 1 Gruppe Kanonenboote, 1 Abt.Panzerkutter, 1 Abt.Monitore, 1 Abt.Minensucher, zudem Minenleger und Wachschiffe, Kommandeur in Admiral) wurde durch schmale Kanäle in die ostpolnischen Pripjet-Sümpfe verlegt.[lviii]Für eine Verteidigung war sie dort sinnlos. Aber sie hätte durch weitere Kanäle zur Weichsel, Oder und Ostsee fahren können - wie 1945 geschehen
Die stärksten Massierungen und die meisten Panzerverbände finden sich ausgerechnet in den weit in deutsches Gebiet vorspringenden Balkonen von Lemberg und Bialystok. Sie liegen dort für eine Verteidigung falsch, aber für eine Offensive günstig
Nachweislich liegen viele der Depots für Ersatzteile, Munition und Betriebstoff näher an der Grenze als die Truppenteile, die sich hieraus versorgen sollen. Allein in der Grenzstadt Brest-Litowsk lagern 10 Millionen Liter Betriebstoff[lix]
Sogar Flugplätze liegen 25 oder nur 15 Kilometer von der Grenze entfernt[lx]
Sowjetrussische Offiziere berichten in ihren Kriegserinnerungen, wie sie in der Stunde des deutschen Angriffs die versiegelten Umschläge mit den Kriegsbefehlen öffnen, aber keine Verteidigungsbefehle finden.[lxi] Das wird durch die Ereignisse bestätigt. Es gab zwar Feldbefestigungen, sogar Bunker, vor allem unmittelbar an der Grenze. Aber es gab keine tiefgestaffelten Feldbefestigungen, kaum Minensperren, keine Baumsperren und viele Brücken waren nicht zur Sprengung vorbereitet. Nur so ist erklärlich, dass die angreifenden deutschen Divisionen innerhalb von zwei Tagen bis zu 150 Kilometer weit vordringen konnten (3.Panzerdivision).[lxii]Dabei ist sicher: Hätten die russischen Divisionen, die seit vielen Monaten aufmarschiert waren, eine Verteidigung so vorbereitet wie die Rote Armee 1943 bei Kursk, so wäre der deutsche Angriff vielleicht sogar gescheitert.
Wie eilig Stalin es hatte, lässt sich wiederum aus seinen Maßnahmen ablesen. Im Frühjahr 1941 lässt er aus seinen Konzentrationslagern Hunderte, wenn nicht Tausende von Generalen und jüngeren Offizieren (insgesamt 4000 ?[lxiii])herausholen. Sie werden sofort wieder in ihre alten Funktionen gebracht. Stalin opferte also trotz der damit verbundenen Risiken seinen militärischen Plänen den innenpolitischen Terror.
Zur Frage des von Stalin geplanten Angriffstermins gibt es viele Indizien, doch fast alle werfen Probleme auf. Zwei typische Beispiele: Der spätere Marschall Bagramian berichtet in seinen Memoiren, dass die Divisionen der 2.Staffel des Westlichen Besonderen und des Kiewer Militärbezirks Mitte Juni (also etwa eine Woche vor dem deutschen Angriff) Befehl erhielten, in grenznahe Räume aufzuschließen.[lxiv] Man kann das als Zeichen dafür deuten, dass Stalins Überfall unmittelbar bevorstand. Man kann aber ebenso argumentieren, Stalin habe die strategischen Reserven herangeführt, um die Verteidigung zu stärken.
Weiterhin: Gern wird darauf verwiesen, dass Russland noch in der Nacht vor Kriegsbeginn vertragstreu an Deutschland lieferte. Man kann das als Zeichen für Stalins fast verzweifelt-blinden Friedenswillen werten. Doch ebenso ist möglich, dass Stalin Hitler täuschen wollte; nur ein Dummkopf würde durch Vertragsbruch vor seinem Angriff warnen. Beide Fälle wären nur zu entscheiden, wenn unverdächtige Quellen zur Verfügung stünden. Ähnliches gilt für viele andere Indizien aus den letzten Friedenswochen.[lxv] Allgemein wird man sagen dürfen: Beide Seiten, also auch Stalin, müssen etwa ab April, spätestens ab Mai den Aufmarsch des Gegners erkannt haben. Alle seitdem von ihnen getroffenen Maßnahmen lassen sich, nach nach Präferenz des Betrachters, als Angriffs- und als Verteidigungsmaßnahmen deuten. Sie eignen sich demnach kaum zur Stützung oder zur Widerlegung irgend welcher Thesen.
Damit zum Schluss der Betrachtung der Sowjetunion. Zusammenfassend darf man sagen:
Stalin hatte in einem verarmten Land eine riesige Militärmacht aufgebaut
Stalins Armee war so konstruiert, dass sie weiträumige Operationen bis ins Herz Europas führen konnte
Diese Armee war schon 1940 und noch mehr 1941 mit Kräften aufmarschiert, die den deutschen weit überlegen waren
Es war ein Offensivaufmarsch
Der Aufmarsch war weitgehend abgeschlossen; Stalin konnte in wenigen Tagen, vielleicht Wochen angreifen - falls er es wollte
Für diese Bewertungen lassen sich Belege, sogar Beweise vortragen. Aber sogar ein Verfechter der These eines grundlosen deutschen Überfalls gesteht noch im Jahr 2000 zu, "dass die Frage der tatsächlichen Absichten Stalins noch immer nicht geklärt ist und dass in dieser Hinsicht ein gravierender Mangel an Quellen besteht."[lxvi] Folglich lassen sich wichtige Fragen kaum klären:
Wir wissen nicht, ob Stalin im Juni 1941 den russischen Aufmarsch als abgeschlossen ansah
Mithin wissen wir nicht, ob Stalin die Rote Armee als angriffsbereit beurteilte
Insbesondere wissen wir nicht, ob Stalin die Reorganisation der Panzer-Großverbände als ausreichend fortgeschritten ansah
Wir wissen nicht, ob Stalin den deutschen Aufmarsch als abgeschlossen, mithin den Angriff als bevorstehend ansah
Noch wichtiger: Wir wissen nicht, ob Stalin die politische Lage als angriffsgünstig ansah oder ob er noch weiter warten wollte. Allerdings: Der Truppenaufmarsch setzte auch einen Diktator unter Zeitdruck. Stalin würde seine Truppen ruinieren, wenn er sie unbeschränkt, schließlich mit dem Winter vor der Tür, in den Wäldern ließ. So spricht vieles für die - freilich unbeweisbare - Annahme, dass Stalin binnen weniger Wochen zum Schwert gegriffen hätte.
Dem steht ein häufig zu findendes Argument entgegen. Es gründet sich darauf, dass Stalin 1937/38 bei den großen Säuberungen, also Massenmorden, zahlreiche hohe Generale beseitigt hatte, dabei drei der fünf Marschälle, 13 der 15 Armee-Oberbefehlshaber, 57 der 85 Kommandierenden Generale von Armeekorps und 110 der 195 Divisions- sowie die Hälfte der 406 Brigadekommandeure.[lxvii] Stalin habe gewusst, dass nach diesem Aderlass die Rote Armee für Jahre nicht einsatzbereit war.
Doch dieser Deutung steht Stalins grundlegende Weisung für den Kriegsfall vom 18.September 1940 deutlich entgegen.[lxviii] Sie sah, ebenso wie die späteren Operationspläne und -vorschläge, nach einer möglichst kurzen Verteidigung als erste Phase eine Offensive bis in den Raum um Breslau mit Alternativen zum Abschneiden Deutschlands vom Balkan oder zur Wegnahme von Ostpreußen vor. Stalin war also nachweislich schon im September 1940 überzeugt, dass die Rote Armee gewaltige Operationen durchführen konnte.
Hitlers Zwangslage und Pläne
Damit hinüber zur deutschen Seite. Sogar wenn nachweisbar wäre, dass Stalin im Sommer 1941 angreifen wollte, so bleibt die Möglichkeit, dass zwei Angriffe aufeinander getroffen sind, wie 1940 in Norwegen.
Die Literatur über die Entstehung des deutsch-sowjetischen Krieges ist randvoll gefüllt mit Zitaten Hitlers über die Erweiterung des deutschen Lebensraumes. Doch das beweist ebenso viel und ebenso wenig wie Zitate aus der kommunistischen Ideologie. Die Zitate belegen höchstens einen generellen Kriegwillen. Aber sie zeigen nicht, warum Hitler 1941 statt 1942 oder 1945 angriff. Den Juni 1941 müssen zusätzliche Gründe bestimmt haben, nach denen wir suchen müssen.
Weiterhin: Der eingangs erwähnte Artikel aus "DIE ZEIT" war reichlich illustriert mit Bildern von Exekutionen russischer Partisanen oder Zivilisten. Doch auch Bilder von Dresden, Nagasaki oder von der Vertreibung der Ostdeutschen tragen nichts zur Klärung der Frage bei, wie es zu den Kriegen 1939 und 1941 gekommen ist. Derartiges emotionalisiert nur.
Noch eine Vorbemerkung: Diese Studie verzichtet auf eine Darstellung sowie Bewertung der russischen Operationsentwürfe und Kriegspiele, wie etwa dem sowjetischen Aufmarschplan vom 15.Mai 1941,[lxix] über deren Deutung längst ein heftiger Federstreit um Überlieferung, Glaubwürdigkeit und Bedeutung entstanden ist.[lxx] Sie verzichtet auch auf Zitate aus Reden und ähnlichem, wie etwa der vieldiskutierten Ansprache Stalins am 5.Mai 1941 vor Absolventen der Militärschulen. Nicht nur, weil der Raum fehlt. Sondern auch, weil schon Talleyrand darauf verwiesen hat, dass für einen Politiker Worte nur ein Mittel sind, seine Gedanken zu verbergen.
Bei jeder Äußerung von Stalin, Hitler und anderen Politikern müsste also untersucht werden, wie glaubwürdig die Überlieferung ist, was die Politiker mit ihrer Äußerung bezweckten und ob diese Äußerung ihre inneren Gedanken spiegelte. Immerhin läßt sich sogar mit unstrittigen, aber zielgerichtet ausgesuchten Zitaten alles "beweisen". Als Beispiel: Die Verfechter der These eines grundlosen Überfalls Hitlers zitieren meist ausführlich Hitlers Lebensraum- und Rassetheorien.[lxxi] Aber Hitler hat schon in "Mein Kampf" mit gleicher Eindringlichkeit vor einem Zweifrontenkrieg gewarnt - doch das wird selten zitiert.
Man wird also gut tun, die Äußerungen Stalins und Hitlers streng nach ihren Taten zu beurteilen. Nur Taten zeigen, was die beiden wirklich wollten.
Die ersten "Taten" Hitlers für einen Angriff auf die Sowjetunion stammen aus dem Hochsommer 1940. Hitler wies die Wehrmacht an, "das Problem Russland in Angriff zu nehmen". Am 31.Juli verkündete er vor den Spitzen der Wehrmacht sogar: "Entschluss: ... Russland muss erledigt werden. Frühjahr 1941. Je schneller wir Russland zerschlagen, um so besser ... Bestimmer Entschluss: Russland zu erledigen."[lxxii]
Aber dann folgte nichts mehr. Bis zum November 1940 hat Hitler nicht einmal gefragt, zu welchen Ergebnissen die Operationsstudien der Wehrmacht gekommen wären. Das widerspricht einem unabänderlichen Entschluss und sogar einem starken Interesse. Immerhin hatte sich Hitler schon in die Planung des Frankreichfeldzuges von Anfang an eingemischt,[lxxiii] und seitdem war sein Glaube an seine militärischen Fähigkeiten weiter gestiegen. Zudem verbot Hitler sogar jede Spionage gegen Russland[lxxiv], obwohl die russische Spionage auf hohen Touren weiterlief.[lxxv] Wer unbedingt will, kann das als Tarnung finsterer Absichten deuten. Aber nicht einmal das wertvolle rumänische Material durfte angekauft werden.[lxxvi]
Zudem hat Hitler nachweislich bis in den November 1940 hinein gehofft, Russland für einen Kontinentalblock aus Deutschland, Italien und Japan gegen die angelsächsischen Mächte gewinnen zu können. Am 26.September schlug der Oberbefehlshaber der Marine Hitler vor, den Schwerpunkt der deutschen Kriegführung gegen England über den Suezkanal in den Nahen Osten zu verlegen und setzte hinzu: "Russlandproblem erhält dann anderes Aussehen ... Fraglich, ob dann noch Vorgehen gegen Russland .. nötig sein wird." Hitler stimmte zu und ergänzte: "Russland werde er zu veranlassen suchen, energisch gegen Süden - Persien, Indien - vorzugehen." Am 1.November 1940 notiert der Chef des Generalstabes (Halder): "Führer hofft, Russland in die Front gegen England einbauen zu können."[lxxvii]
Der Umschwung tritt mit dem Besuch des russischen Außenministers Molotow im November 1940 in Berlin ein.[lxxviii] Hitler versuchte, Russland in einen deutsch-italienisch-japanischen Kontinentalblock zu ziehen - ein weiteres Zeichen dafür, dass er zu einem Krieg gegen Russland noch nicht endgültig entschlossen war. Molotow hat hingegen Forderungen gestellt: Vorherrschaft über die türkischen Meerengen, Vorherrschaft über den Balkan sowie Vorherrschaft über Finnland und hat deutlich sein Interesse an den dänischen Ostseezugängen bekundet.
Das hätte das rumänische Öl und das finnische Nickel in sowjetische Hand gebracht, vielleicht auch das schwedische Erz. Alle Kraftquellen der deutschen Kriegführung wären dann in sowjetischer Hand gewesen. Was Stalin forderte, war praktisch Unterwerfung. Und zur Untermalung dieser Forderungen standen schon einhundert sowjetische Divisionen an den Westgrenzen Russlands, ihnen gegenüber (außer den Ungarn und Rumänen) nur 33 deutsche.[lxxix]
Was Stalin glaubte, Hitler zumuten zu können, macht eine Facette deutlich. Eine gute Woche nach dem Molotow-Besuch, am 25.11.40, fixierte Molotow seine Forderungen noch einmal schriftlich. Erneut forderte er dabei eine Basis für sowjetrussische Truppen am Bosporus und den Dardanellen. Falls (wie doch anzunehmen), die Türken sich weigerten, müssten "Deutschland, Italien und die Sowjetunion übereinkommen, die erforderlichen militärischen und diplomatischen Maßnahmen auszuarbeiten und durchzuführen."[lxxx] Mit anderen Worten: Deutsche Truppen sollten notfalls gemeinsam mit den Russen in der Türkei Stützpunkte für die Sowjetunion erobern. Stalins Zumutungen lassen nur zwei Deutungen zu: Er glaubte, Hitler, zwischen Sowjetarmee und England/USA eingeklemmt, sähe sich gezwungen, sich der Sowjetunion auf Gnade und Ungnade unterwerfen. Oder Stalin wollte Hitler bewusst zum Angriff provozieren. Welche der Möglichkeiten zutrifft, lässt sich aus Quellenmangel nicht entscheiden.
Mithin ist kein Zufall, dass zwar manch einer in der deutschen Führung sowjetische Angriffsabsichten verneinte, der Chef des Generalstabes und der "Spionagechef" jedoch anders urteilten - Fachleute also, die wahrlich nicht zu den "Nazis" gehörten. Halder notierte, man müsse zugeben, "dass die russische (Militär)Gliederung sehr wohl einen Übergang zum Angriff ermöglicht".[lxxxi] Canaris, der als Hitler-Gegner die Grenze zum Hochverrat längst nicht mehr fürchtete, sie vielleicht schon überschritten hatte, unterstützte dennoch die Vorbereitungen für den Russlandfeldzug. Er war von "echter" Furcht "vor der sowjetischen Gefahr" erfüllt und wusste nicht mehr, "ob Hitler oder Stalin zuerst losschlagen werde" (H.Höhne).[lxxxii] Nicht umsonst ergingen Befehle an das deutsche Ostheer für den Fall eines russischen Überfalls. Noch sechs Tage vor Barbarossa 1941 erließ die Panzergruppe 1 eine Weisung für den Fall eines sowjetischen Überraschungsangriffs mit der einleitenden Bemerkung: "Der russische Aufmarsch uns gegenüber läßt auch eine Angriffslösung gegen uns zu."[lxxxiii]
Schließlich hat Hitler wohl auch erkannt, dass Stalin einen deutschen Sieg kaum zulassen, also sich zum Handeln gezwungen sehen konnte. Hitler äußerte, er sei sich "völlig" klar darüber, dass nach einem vollen Sieg Deutschlands die Lage Russlands "sehr schwierig" werden würde. Das musste zu der Überlegung führen, Russland zu beseitigen, ""ehe es sich mit England zusammentun könne" (Hitler).[lxxxiv]
Aus Sicht der Reichsführung war demnach bei Abreise Molotows die weltweite Lage etwa wie folgt:
England war entschlossen, den Krieg bis zu einem Sieg, und das bedeutete: bis zu einem Super-Versailles durchzukämpfen, beflügelt von der Hoffnung auf ein Eingreifen der USA - und Russlands
Die USA waren nur noch theoretisch neutral; auf dem Atlantik führten sie praktisch schon Krieg; Hitler rechnete mit einem offenen Kriegseintritt 1942
In Fernost hatten Japan und Russland eben noch einen unerklärten Krieg geführt. Deshalb konnte Japan keine amerikanischen Kräfte binden. Das gab den USA freie Hand gegen Deutschland
Schließlich Russland. Solange Sowjetrussland ungeschlagen blieb, konnte England auf sein Eingreifen hoffen, war Japan gebunden und konnte die USA nicht zurückhalten
Zudem hatte Russland innerhalb eines Jahres buchstäblich sämtliche Grenzpfähle zwischen dem Nordmeer und dem Schwarzen Meer gewltsam nach Westen verschoben. Dieses Russland verlangte nun von Deutschland, sich in eine totale wirtschaftliche Abhängigkeit von Stalin zu fügen. Was Stalin anschließend fordern würde, war unbekannt
Ganz düster wurde es, wenn man den Blick in die Zukunft richtete. Schon 1942 würden die USA und England voll im Kriege stehen. Dann war Russland praktisch Schiedsrichter in einem globalen Konflikt. Nach Verwirklichung von Molotows Forderungen konnte Russland nach Belieben Deutschland kämpfen lassen, weiter erpressen oder wirtschaftlich erdrosseln. Oder es konnte als lachender Dritter in die Schlußphase des Konflikts bewaffnet eingreifen.
Angesichts dieser Lage haben die Militärs Hitler versichert, ein Sieg binnen weniger Monate wäre möglich;[lxxxv] sie haben damit eine schwere Verantwortung auf sich geladen. Für Hitler konnte es damit kein Halten mehr geben. Mit Lebensraum, Rasse und Aggression hat das nur wenig zu tun; auch Gorodetsky, Israeli und wahrlich ein Verfechter der Überfallthese, sieht "ernste" Zweifel, dass bei Hitlers Entschluss "ideologische Überlegungen eine Rolle spielten".[lxxxvi]
Um so mehr hat es mit Deutschlands geographischer Lage zu tun, deren Konsequenzen sich gut mit einem Parallelbeispiel zeigen lassen. Während des deutsch-französischen Kriege 1870 spielte Österreich-Ungarn sehr ernsthaft mit dem Gedanken, Preußen-Deutschland in den Rücken zu fallen. Doch ein drohendes Knurren des Zaren zwang den österreichischen Ministerpräsidenten Graf Beust, seine Pläne aufzugeben.[lxxxvii] Das Beispiel zeigt: Deutschland, mitten in Europa liegend, konnte einen Krieg nach der einen Seiten nur führen, wenn die Großmacht auf der anderen Seite freundlich gesonnen war. Als Hitler nach Westen Krieg führte und im Osten Stalins Wohlwollen in Zweifel geriet, stand Deutschland sofort zwischen zwei Feuern. Es konnte nur noch versuchen, sich der tödlichen Gefahr durch einen Befreiungsschlag gegen Russland zu entziehen, denn England war nicht fassbar.
Vor dem Schluss dieser Darlegungen ist noch einmal ein Hinweis auf die einleitenden Bemerkungen notwendig. Die Aktenlage für die Erforschung der Kriegsursachen 1941 ist dürftiger als wohl für alle Kriege der Neuzeit, und was vorhanden ist, ist alles andere als zweifelsfrei. Wer also behauptet, er kenne die Kriegsursachen 1941 und könne sie unwiderleglich und abschließend darlegen, muss sich Fragen nach seiner Seriosität gefallen lassen.
Vermutlich können wir drei Thesen ausschließen:
Als erstes die These, 1941 wäre ein unbedingt friedlicher Stalin angegriffen worden, also jene politisch korrekte These, die Medien und Schulbücher beherrscht
Ein weiterer Schluss ergibt sich aus der Tatsache, dass der Aufmarsch von 150 deutschen Divisionen sowie der Luftwaffe nicht unbemerkt bleiben konnte, zumal Stalin nachweislich zusätzlich zahlreiche Warnungen erhielt. Demnach ist unmöglich, dass Stalin vom deutschen Angriff strategisch überrascht wurde. Auch ist wenig glaubwürdig, Stalin habe trotz des deutschen Aufmarsches noch Mitte Juni 1941 geglaubt, den Frieden längerfristig oder gar langfristig wahren zu können. Bestenfalls möglich und zudem sogar wahrscheinlich ist, dass Stalin taktisch, also vom Zeitpunkt des Angriffs, überrascht wurde
Auszuschließen ist wohl auch die These, der deutsche Angriff wäre ein Präventivkrieg in dem Sinne gewesen, dass ein unbedingt und langfristig friedlicher Hitler den sowjetischen Aufmarsch bemerkt und ihm schweren Herzens zuvorgekommen wäre.
Für die geopolitische Lage, für die ideologischen Kräfte, für die Handlungen Stalins sowie Hitlers scheint das folgende Modell die beste Erklärung zu geben:
Stalin wäre schon nach einem hitlerschen Remis gegen England in eine böse Abhängigkeit von Großdeutschland geraten. Das konnte kein Herrscher Russlands leichten Herzens zulassen. Ideologische Gründe mögen den resultierenden Entschluss zum Aufmarsch und zu einer ausgesprochen aggressiv-provokatorischen Westpolitk bestärkt haben.
Die Zwangslage Stalins war für Hitler erkennbar. Hitler konnte den Krieg gegen England, praktisch also auch gegen die USA, nur führen, wenn er seinen Rücken sicher wusste. "Barbarossa" wäre nur zu vermeiden gewesen, wenn Stalin Deutschland offensichtlich ebenso freundlich gesinnt gewesen wäre wie der Zar 1870.
Abschließend könnte man fragen, wo bei dieser Schilderung die deutschen Untaten blieben? Zweifellos hat Hitler den Krieg, nachdem er einmal beschlossen war, für große Untaten genutzt. Doch die Nutzung des Krieges für Taten, die im 18. und 19.Jahrhundert nur für Verbrecher denkbar gewesen sind, lässt sich für alle beteiligten Staaten nachweisen - bis hin zu Jalta, Potsdam und Nagasaki. Doch die Rebarbarisierung des Krieges im 20.Jahrhundert darzulegen und ihre Gründe aufzuzeigen, war nicht das Thema dieser Studie.[lxxxviii]
Die Ursachen des Scheiterns
Es bleibt noch, zu einigen wichtigen Fragen Stellung zu nehmen, die sich aus der Vorgeschichte des Russlandfeldzuges ergeben.
Wie dargelegt, war die Rote Armee im Juni 1941 der deutschen Wehrmacht an allem, was sich zählen, wiegen und messen lässt, turmhoch überlegen. Dem scheint zu widersprechen, dass die Wehrmacht schon im November 1941 an die Tore von Moskau pochte und mit Artillerie auf den Kreml schoss.[lxxxix] Doch der Schein trügt. Schon im Frankreichfeldzug war die Wehrmacht an allem, was sich zählen, wiegen und messen lässt, den Alliierten weit unterlegen,[xc] und zudem konnten sich die Alliierten auf gigantische Befestigungen stützen. Dennoch hat die Wehrmacht den Feldzug buchstäblich in vier oder fünf Tagen entschieden, in zehn Tagen gewonnen und in wenigen Wochen beendet. Ein ähnliches Bild zeigt schon der Erste Weltkrieg (Tannenberg) und, in verkleinertem Maßstab, die Schlacht um Kreta 1941:[xci] Scheinbar hoffnungslose deutsche Unterlegenheit an Zahl und Material - dennoch Sieg in wenigen Tagen. Der Grund liegt auch hier, ebenso wie bei den Siegen der Wehrmacht 1941, in der qualitativen Überlegenheit - vom Gruppenführer bis zum hohen General. Hierüber gibt es eine umfangreiche ausländische Literatur - die allerdings in der Bundesrepublik fast unbeachtet blieb.[xcii] Die qualitative Überlegenheit der Führung und des Kampfwillens der Truppe haben lange die numerische Unterlegenheit ausgleichen können. Beim Russlandfeldzug traten weitere Faktoren verstärkend hinzu: Der deutsche Angriff traf auf einen Gegner, der zur Offensive aufmarschierte, dessen Aufmarsch aber noch nicht ganz abgeschlossen war und der taktisch überrascht wurde.
Die Frage, ob im Zweiten Weltkrieg ein Sieg oder ein Remis unter Hitler einem Jalta und Potsdam vorzuziehen war, ist nicht Thema dieser Ausführungen. Mithin bleibt die Frage berechtigt, warum der Feldzug gescheitert ist.
Der erste Grund liegt in der fast grotesken Unterschätzung der Widerstands- sowie Regenerationskraft Sowjetrusslands. Sie wird deutlich in dem Urteil des Chefs des Generalstabes Halder, der am 12.Tag des Russlandfeldzuges in seinem Tagebuch notierte, der Feldzug sei gewonnen, er müsse nur noch beendet werden.[xciii]
Die Unterschätzung hat zu einem zweiten Grund des Scheiterns wesentlich beigetragen: Das Reich hat sein Potential viel zu spät mobilisiert. So wurden zum Beispiel 1941 nur 3500 Panzer produziert[xciv] - und das waren meist leichte Panzer. Folglich mussten immer wieder Besatzungen ausgefallener Panzer als Infanterie eingesetzt werden, weil Ersatzpanzer nicht vorhanden waren. 1944 wurden sechsmal mehr, wurden 20 000 Panzer produziert, nur schwere Panzer,[xcv] und das trotz der Luftangriffe. Viele Schlachten wären wohl anders verlaufen, wenn die Truppe 1941 die Waffen von 1944 gehabt hätte.
Das gleiche Bild zeigt die Mobilisierung der Arbeitskräfte. Es ist bezeichnend, dass die Zahl der arbeitenden Frauen von 1939 (14,6 Millionen) bis 1941 sank (14,1 Mio) und erst 1943 die Zahl von 1939 wieder erreichte und leicht überschritt (14,8 Mio). Gleichzeitig wurden Millionen von männlichen Arbeitskräften einberufen. Mithin sank, während die Rüstungsindustrie nach Arbeitskräften und die Front nach Waffen schrie, die Zahl der deutschen Arbeitskräfte von 1939 bis 1941 um sechs Millionen. Diese Lücke konnten auch drei Millionen Kriegsgefangene und Ausländer nicht schließen.[xcvi] Was möglich und zu tun war, hat nicht nur die Sowjetunion, sondern haben auch die USA gezeigt. In den USA stieg die Zahl der arbeitenden Frauen von 1940 (14 Prozent), identisch mit Deutschland, auf 20 Prozent.[xcvii]
Ins Allgemeine gehoben: Das Reich hat, ähnlich wie schon im Ersten Weltkrieg, sein Potential viel zu spät mobilisiert. Es begnügte sich mit einer "friedensähnlichen Kriegswirtschaft".[xcviii] Die Gründe zu erörtern, ist hier nicht der Ort.
Der dritte Grund für das Scheitern des Russlandfeldzugs liegt in einer Operationsführung, die von Anfang an widersprüchlich war. Hitler wollte die Schwerpunkte an den Flügeln setzen: Der linke Flügel sollte Leningrad nehmen, der rechte Flügel sollte die Industriegebiete der Ukraine und dann das Öl des Kaukasus nehmen oder bei Stalingrad abschneiden. Erst nachdem die Rote Armee ihrer wirtschaftlichen und industriellen Kraftquellen beraubt worden war, sollte sich die Wehrmacht gegen die so geschwächten Hauptkräfte des Gegners wenden. Der Generalstab des Heeres hingegen lehnte die Einbeziehung wehrwirtschaftlicher Gesichtspunkte in die militärische Operationsplanung ab.[xcix] Er wollte nach den Grenzschlachten geradewegs auf Moskau vorgehen, also den Stier frontal bei den Hörnern packen, denn im Zentrum des sowjetischen Imperiums werde sich die Rote Armee zur Entscheidungsschlacht stellen müssen.
Vermutlich spricht vieles für die Flankenlösung.[c] Sicher ist jedoch, dass Schwanken den Fehlschlag heraufbeschwören musste - und so ist es gekommen.[ci] Leningrad konnte abgeschnitten, nicht aber genommen werden, der Vorstoß auf Moskau blieb stecken und der Vorstoß in die Ukraine kam so langsam voran, dass Stalin 1523 Fabriken abbauen und im Ural wiederaufbauen konnte. Mithin produzierte die Sowjetunion schon 1943 wieder doppelt so viele Panzer wie die Wehrmacht für den Krieg an allen Fronten.[cii]
Doch auch das war nur ein Nebengrund für das Scheitern des Russlandfeldzugs. Auch dieser Feldzug gehört zu jenen, die militärisch ausgefochten, aber politisch gewonnen oder verloren werden.
Sicherlich gibt es Kriege, bei denen die Politik sich darauf beschränken kann, eine übermächtige Koalition zu schmieden. Die Soldaten zerschmettern dann den Gegner - so wie die Alliierten zuletzt im Golfkrieg 1991. Aber Deutschland war 1914 und 1939 in einer anderen Lage. Um den Gegner mit militärischen Mitteln zu zerschmettern, hätte das Reich Paris, London, Wladiwostok und wohl auch Washington sowie Los Angeles erobern müssen.
Folglich war der Russlandfeldzug nur politisch, wenn auch natürlich mit militärischer Unterstützung, zu einem tragbaren Ende zu bringen. Es ging darum, den Russen eine Alternative zu bieten, die besser als das Leben unter Stalin war. Die Voraussetzungen hierfür waren vortrefflich. Mehr als eine Million Russen haben im Zweiten Weltkrieg unter deutschen Fahnen gedient, meist wohl nicht, um das Hakenkreuz zu stützen, sondern um Hammer und Sichel zu stürzen. Das war einzigartig in der Geschichte der Kriege. Um noch mehr Kräfte zu mobilisieren und den Russlandfeldzug zu gewinnen, hätte das Dritte Reich den Menschen Russlands mehr bieten müssen als eine von Hitler und Himmler beherrschte Zukunft. Doch dazu hätte eben Hitler nicht Hitler und Himmler nicht Himmler sein dürfen.
Allerdings kann man das Argument weiterführen. Viele der in Stalingrad gefangengenommenen deutschen Offiziere haben sich dem sowjetgesteuerten Nationalkomitee Freies Deutschland oder dem Bund Deutscher Offiziere angeschlossen - meist wohl nicht, um Hammer und Sichel zu stützen, sondern um das Hakenkreuz zu stürzen. Das war einzigartig in der Geschichte der Kriege. Um noch mehr Kräfte zu mobilisieren und den Krieg rascher sowie mit weniger Opfern zu gewinnen, hätten die Alliierten den Deutschen nur mehr bieten müssen als eine von Jalta und Potsdam, also von einem Super-Versailles beherrschte Zukunft. Doch dazu hätte eben Stalin nicht Stalin, Roosevelt nicht Roosevelt und Churchill nicht Churchill sein dürfen.
Um übergroße Erwartungen zu dämpfen, sei einleitend begründet, warum die Frage nach den Ursachen des "Rußlandfeldzugs" wohl nahezu unbeantwortbar ist.
Der erste Grund wird deutlich, wenn wir, als Beispiel, nach den Ursachen des Zweiten Punischen Krieges suchen. Die Historiker sind sich noch nach 2200 Jahren nicht einig, wer den Krieg gewollt hat: Hannibal, Karthago oder Rom.[i] Fragen nach Kriegsursachen scheinen prinzipiell schwer beantwortbar zu sein.
Die zweite Schwierigkeit ergibt sich daraus, dass die Frage nach den Kriegsursachen 1939 und 1941 hochgradig emotionalisiert, moralisiert und politisiert ist. Hierzu brauchen wir nur betrachten, wie die ersten Veröffentlichungen behandelt wurden, die eine alleinige Schuld Deutschlands am Russlandfeldzug "kritisch hinterfragten" - was in anderen Bereichen als fortschrittlich gilt. Diese Schriften erschienen vor oder um 1985.[ii] Doch sogleich antwortete DIE ZEIT mit ganzseitigen Artikeln unter der Überschrift "Verteidigungslügen - Warum die Mär vom Präventivkrieg wiederbelebt wird".[iii] Das ist exakt der Ton der mittelalterlichen, der stalinschen sowie der hitlerschen Inquisition. Die Wahrheit ist offenbart und mithin offenbar. Wer das Offenbare anzweifelt, kann nicht irren, sondern muss verstockt oder böse sein. Ein Historiker braucht sich mit den a priori verfehlten Argumenten nicht auseinanderzusetzen. Er braucht nur aufzudecken, "warum" der Autor die "Mär" und die "Lügen" (DIE ZEIT) wiederbelebt. Und natürlich verfällt der Bösewicht dem Gericht - im Mittelalter war er Ketzer, unter Stalin Trotzkist, unter Hitler Volksschädling und heute Revisionist. Ketzer, Trotzkisten und Volksschädlinge bedrohte der physische, Revisionisten bedroht heute der bürgerliche Tod. Seine Stimme wird gern unterdrückt.
Unvollständige und getrübte Quellen.
Der dritte und wichtigste Grund, warum die Frage nach den Kriegsursachen 1941 nahezu unbeantwortbar ist, ergibt sich aus dem Vergleich der Quellen für Urteile über die Ursachen des Ersten und des Zweiten Weltkriegs.
Zum Ersten Weltkrieg: Schon wenige Jahre nach dem Krieg hatten fast alle Hauptbeteiligten beider Seiten ihre Sicht in Memoiren geschildert.[iv] Zudem hatten alle Nationen vielbändige Aktenpublikationen auf den Weg gebracht. Und schließlich gab es noch lange die Möglichkeit, die Hauptakteure zu befragen. Die Quellenlage war also vorzüglich. Dennoch besteht auch heute keine Einigkeit, wo die Hauptursachen des Krieges lagen und wie sie zwischen den beteiligten Staaten verteilt waren.
Anders die Quellenlage für den deutsch-russischen Krieg. Die deutschen Hauptakteure haben den Krieg nicht überlebt oder sie konnten sich nur im Angesicht des Nürnberger Galgens äußern - kein günstiger Ort für eine gelassene Darstellung. Es bleiben die deutschen Akten. Doch diese sind viele Jahre im Besitz der Sieger gewesen. Die damit verbundene Problematik wird nirgends angesprochen, also ist etwas Ausführlichkeit notwendig.
Nachweisbar ist, dass die Briten ihre eigenen Archive schon bei drittrangigen - drittrangigen! - Fragen gesäubert haben. So wurde nach dem Ersten Weltkrieg entfernt, was die beabsichtigte Hochbewertung des britischen Oberbefehlshabers in Frankreich, des Feldmarschalls Haig, behindert hätte.[v] Auch die Akten über die Tötung einer deutschen U-Bootbesatzung (Fall Baralong) und über die Erfindung deutscher Kriegsverbrechen in Belgien wurden gesäubert.[vi]
Die Aktenmanipulation wurde nach dem Zweiten Weltkrieg fortgesetzt. Wiederum nur als Beispiel: Akten wurden vernichtet, die geklärt hätten, wie es zur Auslieferung der Wlassow-Kosaken, zusätzlich des deutschen Rahmenpersonals und sogar jener uralten Weißrussen gekommen ist, die nie Untertan der Sowjetunion gewesen waren und längst eine andere Staatsangehörigkeit besaßen.[vii] Schließlich wurden viele derjenigen Akten vernichtet, die gezeigt hätten, weshalb die englische Regierung die Kontaktversuche des deutschen Widerstandes zurückgewiesen oder unbeantwortet gelassen hat.[viii]
Wenn die Briten so bei drittrangigen Fragen mit ihren eigenen Akten umgingen, ist die Frage berechtigt, wie sie mit den erbeuteten deutschen Akten umgingen, insbesondere dort, wo diese Akten erstrangige Fragen betrafen. In der Tat: Akten über die Ermordung deutscher Schiffbrüchiger im Zweiten Weltkrieg sind sogar nach Aussage des britischen Außenministeriums vernichtet worden.[ix] Die deutschen Dokumente über Kontaktversuche zu den Alliierten im Winter 1939/40 "went missing when they were in Allied hands after the war", gingen verloren, als sie nach dem Krieg in alliierter Hand waren.[x] Allerdings "gingen" sie nicht verloren, weil sie keine Beine hatten. Jemand muss muss am Werk gewesen sein. Noch wichtiger: Schon beim Nürnberger Prozeß soll die Anklage deutsche Dokumente vorgelegt haben, die nicht einmal die dortigen "Richter" als Beweisstück akzeptiert haben.[xi] Bei den Nürnberger Folgeprozessen wurde Generalarzt Professor Dr.Rose aufgrund gefälschter Dokumente verurteilt.[xii] Weiterhin haben die Sieger bei Kriegsverbrecherprozessen deutsche Dokumente in bemerkenswerter Weise selektiv verwendet und später nur selektiv zurückgegeben.[xiii] Sogar das Militärgeschichtliche Forschungsamt der Bundeswehr - oft wegen politischer Korrektheit kritisiert - wirft dem Münchener Institut für Zeitgeschichte vor, eine von den Alliierten gefälschte Ansprache des Chefs des Generalstabes, Generaloberst Halder, als echt zu deklarieren.[xiv] Das berühmt-berüchtigte "Hoßbach-Protokoll" ist als das "most famous" und zugleich umstrittenste Dokument der NS-Zeit bezeichnet worden, weil Überlieferung und Zustand rätselhaft sind; Manipulation ist mindestens möglich.[xv]Schließlich ist anzumerken, dass möglicherweise auch die französischen und die belgischen Archive gesäubert worden sind.[xvi]
Bei allen diesen Aktionen ist wohl anzunehmen, dass nicht Sekretärinnen oder Amtsboten, sondern gewichtigere Kräfte mit gewichtigen Motiven am Werk gewesen sind - und niemand weiß, was sie sonst noch manipuliert haben.
Nebenbei: Wenn in einem Zivilprozeß die Akten der einen Partei jahrzehntelang im Besitz der Gegenpartei gewesen sind, wird vermutlich jeder Amtsrichter urteilen, es sei notwendig, den Zustand der Akten der benachteiligten Partei zu klären. Doch eine systematische Untersuchung des Schicksals der deutschen Akten auf Vollständigkeit und mögliche "Ergänzungen" ist im Klima der Bundesrepublik nahezu unvorstellbar. Für den Suchenden gibt es nur Zufallsfunde, die vermutlich das Ganze nicht aufdecken.
Zur sowjetischen Quellenlage: Es gibt einige Memoiren, meist von Generalen.[xvii] Aber die Verfasser mussten im Sowjetregime wohl vorsichtig sein. Folglich beurteilen auch unverdächtige Autoren die Behandlung politisch sensitiver Fragen sehr ungünstig.[xviii] Die Archive waren bis 1991 geschlossen. Sie sind auch seitdem nur teilweise und nur zeitweise geöffnet worden; wichtige Archive wie das Präsidialarchiv Stalins sind überhaupt nie zugänglich gewesen.[xix] Gewichtig tritt hinzu: Sogar Valentin Falin, engagierter Verfechter der These eines grundlosen deutschen Überfalls gibt zu, dass die sowjetischen Archive gelegentlich umfassend gesäubert worden sind.[xx] Mithin wird sogar in der deutschen Presse von "systematischer Spurenverwischung" gesprochen.[xxi]
Der Schluss ist unvermeidbar: Die Quellenlage für die Ursachen des Krieges 1941 ist bei beiden Parteien entscheidend schlechter als wohl für jeden Krieg der europäischen Neuzeit. Normalerweise gäbe es für Historiker nur den Schluss: Es ist unmöglich, mehr als Wahrscheinlichkeiten aufzuzeigen.
Im Folgenden wird aufgezeigt, was dem Verfasser dieser Studie wahrscheinlich dünkt. Dabei wird die sowjetische Seite ausführlicher als die deutsche behandelt. Das ist methodisch anfechtbar. Der Verfasser rechtfertigt es mit zwei Gründen:
Begrenzung von Raum sowie Zeit
und damit, dass die These eines grundlosen deutschen Überfalls Medien und Schulbücher füllt, also weitgehend bekannt ist.
Die Entwicklung der Roten Armee
Betrachtet man die Entwicklung der Roten Armee, so fällt ins Auge, dass Sowjetrussland schon in seiner Geburtsstunde bedroht war - erst von deutschen, dann masiv von polnischen und alliierten Truppen. Polen und die Alliierten drangen tief in den Kaukasus, in Nordrußland, Westrussland und in Sibirien ein. Am Ende des Bürgerkrieges hatte das Land buchstäblich von Murmansk bis Wladiwostok nur noch blutende Grenzen: Finnland - die drei baltischen Staaten - Polen - vor Rumänien war Bessarabien verlorengegangen - jenseits des Schwarzen Meeres hatte sich Georgien lösen wollen, und jenseits des Kaspischen Meeres waren die südsibirischen Fürstentümer, Tannu Tuwa, die Mongolei und die Grenze zu China umkämpft gewesen. Der Aufbau einer starken Verteidigungsarmee musste also notwendig erscheinen, zumal die Ideologie einen Endkampf zwischen dem sozialistischen und dem kapitalistischen Lager vorhersagte.
Der Umschwung von einer Verteidigungs- zu einer Angriffsarmee beginnt 1930 mit der Aufstellung der ersten Panzerbrigade.[xxii] 1932 werden die Leningrader 11. und die Kiewer 45.Infanteriedivision zu Mechanisierten Armeekorps von je 500 Panzern und 250 weiteren gepanzerten Fahrzeugen umgegliedert.[xxiii] Damals gab es auf der gesamten Welt noch keine gepanzerten Brigaden, Divisionen oder gar Armeekorps.
Zur gleichen Zeit werden die Konstruktionsbedingungen für das rollende Eisenbahnmaterial geändert. Zukünftig dürfen nur noch Waggons gebaut oder beschafft werden, die rasch von der russischen Breit- auf die mitteleuropäische Spur umgebaut werden können. Die Bahnmeistereien erhalten Anweisungen, wie hoch und wie breit sie russische Waggons beladen dürfen, die auf mitteleuropäischen Strecken fahren sollen.[xxiv] Das konnte nur einen Zweck haben: Stalin wollte seine Armee bis ins Herz Europas hinein versorgen können.
Man muss im Auge behalten, dass die russische Industrie 1914 nur wenig entwickelt gewesen war. Dann hatten Krieg und Bürgerkrieg weite Landesteile verwüstet. Viele Angehörige der technischen Intelligenz waren geflohen oder umgekommen. Mithin wurden noch Ende der zwanziger Jahre jährlich weniger als 1000 PKW und LKW gebaut.[xxv] Doch ausgerechnet in diesem bettelarmen Land verwendet Stalin riesige Mittel, um nicht etwa eine Verteidigungs-, sondern um eine gewaltige Offensivarmee aufzubauen. Im Folgenden werden nur Zahlen für Panzer genannt, doch Zahlen für Divisionen, Geschütze oder Flugzeuge würden ein ähnliches Bild zeigen. Vor allem aber: Der Panzer war schon damals für die Verteidigung wünschenswert, vielleicht erforderlich. Aber für weiträumige Offensiven war er schon unverzichtbar. Panzerlastigkeit ist also ein starkes Indiz für die Planung einer offensiven Strategie.
Deshalb noch eine Vorbemerkung: Manch ein Autor versucht, den Aufbau einer Offensivarmee mit einem Hinweis auf die sowjetische Militärdoktrin zu rechtfertigen. Die Strategie sei defensiv gewesen. Aber wenn Russland überfallen wird, sollte der Krieg ins Land des Gegners getragen werden.[xxvi] Doch dem ist entgegenzuhalten, dass wohl noch nie eine Strategie darauf beharrt hat, den Krieg im eigenen Land zu führen. Im übrigen hat Stalin wahrlich nicht auf einen Überfall des Gegners gewartet, als er 1939/40 erst Polen, dann Finnland angriff, in die drei baltischen Staaten sowie in Bessarabien einmarschierte und 1945 Japan angriff.
Den 1932 aufgestellten zwei MechArmeekorps folgen bis 1939 mindestens zwei, nach anderen Autoren fünf weitere.[xxvii] Dann schließen Stalin und seine Berater aus dem spanischen Bürgerkrieg, dass große Panzerverbände nicht zu handhaben sind. Also lösen sie die vier (oder sieben?) panzerstarken Armeekorps 1939 auf - an ihre Stelle treten 15 Panzerdivisionen. Doch der deutsche Polen- und Frankreichfeldzug zeigen den Fehler. Schon im Juli 1940 befiehlt Stalin die Neuformierung von 9 MechKorps, deren jedes mit nun über 1000 Panzern[xxviii] unerhört panzerschwer war. Die Aufstellung weiterer Korps (11 ? 21 ?) wird 1941 befohlen, konnte aber bis zum deutschen Russlandfeldzug wegen Mangels an Panzern und Fachpersonal nicht abgeschlossen werden.[xxix] Schon die Panzer in den genannten Armeekorps ergeben gigantische Zahlen. Zudem verwendete die Rote Armee zahlreiche Panzer in selbständigen Truppenteilen, 1940 (zusätzlich zu den damals vorhandenen 15 Panzerdivisionen von je 275 Panzern) 35 PzBrigaden zu je 258 und 4 PzBrigaden zu 156 Panzern sowie 20 PzRegimentern bei Kavallerie- und 98 PzBataillonen bei Infanteriedivisionen.[xxx]
Bevor die Zahlen genannt werden, eine Vorbemerkung. Die Literatur nennt meist "Panzer", was so hieß. Doch die Wehrmacht - und praktisch nur diese - nannte Panzer auch, was nur eine 20mm-Kanone (Pz II) oder sogar nur Maschinengewehre (Pz I) trug. Diese MG-Träger waren für den Kampf gegen Feindpanzer nicht zu verwenden.[xxxi] Also werden sie bei den folgenden Zahlen gesondert aufgeführt. Um einen Maßstab für die nun zu nennenden sowjetischen Panzerzahlen zu geben: Die Wehrmacht ist mit 2650 Panzern und 1000 MG-Trägern in Russland einmarschiert.
Den Panzerbestand der Roten Armee 1932 gibt Marschall Shukow mit 5000 an.[xxxii] 1936 läßt Stalin bei einer einzigen Parade bereits 1000 Panzer vorbeimarschieren.[xxxiii] 1939 kommt es dann zu einem skurrilen Ereignis: England, Russland und Frankreich verhandeln in Moskau über einen Militärpakt gegen Deutschland. Stalin bietet für den Bündnisfall 10 000 Panzer und zudem 120 Infanterie- und 16 Kavalleriedivisionen sowie 5000 Flugzeuge an. Dann fragt Marschall Woroschilow, was England zu bieten habe. Doch die Briten weichen aus, bieten Worte statt Zahlen. Der Russe bleibt unerbittlich. Die Briten müssen schließlich bekennen: sie haben sechs Divisionen zu bieten.[xxxiv] Kein Wunder, dass die Verhandlungen scheitern. Doch wie es zum Hitler-Stalin-Pakt gekommen ist, gehört nicht in diese Studie.
Anfang 1940 hat die Sowjetunion dann um 18 000 Panzer, dabei etwa 3000 veraltete. Für den Juni 1941 schwanken die sowjetischen Angaben zwischen 21 000 und 24 000 Panzern.[xxxv] Die Wehrmacht hatte insgesamt 3700, zusätzlich knapp 2000 MG-Träger. Sie hat Russland mit 2650 Panzern und etwa 1000 MG-Trägern "überfallen".[xxxvi] Wer Qualitätsunterschiede einrechnen will: Die deutschen Panzer hatten eine bessere Funkausstattung, wichtig für das Zusammenwirken auf dem Gefechtsfeld. Hingegen befanden sich unter den mehr als 20 000 sowjetischen Panzer schon 1850 T34 und KW1.[xxxvii] Diese waren für alle deutschen Panzer fast unverwundbar, konnten aber jeden deutschen Panzer auf 800 Metern abschießen.[xxxviii]
Insgesamt hatte Russland 1941 mindestens doppelt, wenn nicht dreimal mehr Panzer als die gesamte übrige Welt zusammen. Nur mit Dreistigkeit kann man hierbei von einer Verteidigungsarmee sprechen. Diese Bewertung wird durch weitere Maßnahmen bestätigt. 1940 läßt Stalin Luftlande-Armeekorps aufstellen - wiederum die ersten der Welt. Und zwar gleich fünf.[xxxix] Im Sommer 1941 weitere fünf.[xl] Und schließlich läßt Stalin im Frühjahr 1941 in der Ukraine vier Infanterie- in Gebirgsdivisionen umgliedern und verlegt die kaukasische 192. Gebirgsdivision in die Ukraine.[xli] Doch in der Ukraine gibt es keine Gebirge, wohl aber, mit den Karpathen, in Ungarn und Rumänien.
Hier ist wiederum eine Zwischenbemerkung notwendig. Viele Historiker legen heute dar, dass Hitler 1941 einen unbedingt friedenswilligen Stalin grundlos überfallen hat. Doch diese These wird durch die ungeheure, durch Panzermassen und Luftlandetruppen auf weitreichende Offensiven programmierte Roten Armee gestört. Zudem muss Stalin für den Aufbau einer solchen Armee ein Motiv gehabt haben - welches wohl? Und schließlich war unwahrscheinlich, dass Stalin seine unter großen Opfern aufgebaute Armee untätig in den Kasernen lassen würde, wenn er eine Gefahr wahrnahm. Oder wenn er eine Gelegenheit zum Beutemachen sah - so wie 1939 in Polen und Finnland, 1940 in den drei baltischen Staaten und 1945 in Fernost.
Also drängen jene Historiker den Aufbau und den Umfang dieser Armee weit in den Hintergrund oder verschweigen das sowjetische Militärpotential sogar ganz und bezeichnen die Rote Armee einfach als "schlecht ausgerüstet".[xlii] Das ermöglicht, darzulegen, Stalin habe 1940/41 "verzweifelt" versucht, Hitler zu besänftigen, weil er wusste, dass seine Armee zu schwach sei.[xliii]
Stalins Zwangslage und Pläne
Damit zu der Frage, was Stalin 1940/41 beabsichtigte. Allerdings wird die Frage nach den Kriegsursachen heute meist als Frage nach der Kriegs-"Schuld" gestellt. Dafür gibt es Gründe. Aber damit fällt ein mit moralischen Kategorien kaum fassbarer Faktor aus der Betrachtung heraus. Konkret: Seit 1939 musste jeder Herrscher Russlands, ob Zar oder Stalin sich fragen, wie seine Lage beim Ende des deutsch-britischen Krieges sein werde. Die Antwort war leicht - und zugleich unheildrohend. Schon nach einem Remisfrieden im Westen würde Hitler die gesamte Macht seines Imperiums gegen Russland werfen können. Stalin musste befürchten, dass Hitler das auch tun werde. Aus ideologischen Gründen. Und um Lebensraum zu gewinnen. Stalin mag nicht gewusst haben, dass im Ersten Weltkrieg, also kaum mehr als 20 Jahre zuvor, 763 000 Deutsche an Unterernährung gestorben oder schlicht verhungert waren.[xliv] Aber die hieraus abgeleitete Lebensraumtheorie dürften ihm seine Berater vorgetragen haben.
Weiteres kam hinzu. Die Deutschen publizierten 1940 erbeutete französische Akten. Diese zeigten, dass der deutsche "Überfall" auf Norwegen dem alliierten Überfall nur um Haaresbreite zuvorgekommen war.[xlv] Weiterhin belegten sie, dass nur der deutsche Sieg 1940 Engländer und Franzosen gehindert hatte, die russischen Ölfelder im Kaukasus und die Öltanker im Schwarzen Meer anzugreifen, um Öllieferungen an Hitler zu erschweren.[xlvi] Stalin wusste also, wie die Alliierten Neutralität und Völkerrecht werteten, wenn sie ihnen im Wege standen. Er musste zudem annehmen, dass die Westmächte ihm nicht helfen würden, sollte er nach einem deutsch-britischen Ausgleich mit Hitler handgemein werden. Und schließlich drohte Russland auch aus Fernost Gefahr. Noch im Herbst 1939 hatten sich Russen und Japaner an den Grenzen der Mongolei erbitterte Gefechte geliefert.[xlvii]
Hitlers Imperium und vielleicht zudem Japan allein gegenüberzustehen, war keine verlockende Aussicht. Stalin konnte also glauben, er müsse Deutschland in den Rücken fallen, solange es noch teilweise gegen England und die USA gebunden war. Das hat mit der moralischen Kategorie der Schuld wenig zu tun, um so mehr aber mit dem Überlebenswillen Russlands.
Die Folgerungen, die Stalin zog, lassen sich aus seinen Handlungen ablesen. Im September 1939 nimmt er den Polen die ost"polnischen", in Wahrheit vorwiegend weißrussischen und ukrainischen, 1920 von Polen eroberten Gebiete wieder ab. Aber die eingesetzten 21 Divisionen bleiben in dem gewonnenen Räumen und aus Innerrußland rücken Truppen in die nun freien westrussischen Räume nach.[xlviii]
Im Sommer 1940 stehen in Westrussland 100 russische Divisionen, die sich von den wenig kampfkräftigen ungarischen und rumänischen Truppen wohl kaum beeindrucken lassen. Hingegen stehen im Osten des Reiches ganze sechs, anderen Autoren zufolge nur vier Divisionen,[xlix] denn die Wehrmacht ist durch den Frankreichfeldzug gebunden. Stalin nutzt die Gelegenheit sofort. Er marschiert in den drei baltischen Staaten ein. Die Finnen bedrängt er trotz des eben gerade, nach dem "Winterkrieg", geschlossenen Friedens mit neuen, ultimativ vorgetragenen und Finnlands Existenz bedrohenden Forderungen.[l] Rumänien zwingt er bald zur Abtretung Bessarabiens. Nach dem deutschen Sieg in Frankreich tritt wieder Ruhe ein. Doch das ist eine fragwürdige Ruhe, denn niemand weiß, was Stalins hundert Divisionen getan hätten, wenn der Frankreichfeldzug sich festgefahren hätte.
Im Frühjahr 1941 lässt Stalin dann eine Reihe von bemerkenswerten Maßnahmen durchführen
"Die Sowjetunion veränderte die Haltung gegenüber Deutschland auf taktischer Ebene ... durch einen Konfrontationskurs, der jedoch kein Kriegsrisiko einschloß."[li] Konkret: Die Sowjetunion nimmt erstmals diplomatische Beziehungen zu Jugoslawien auf, schließt demonstrativ im April 1941 einen Freundschaftspakt mit Jugoslawien, stachelt die Bulgaren auf, die 1913 verlorene Dobrudscha von Rumänien sowie das an Griechenland verlorene Ost-Thrazien zurückzufordern und setzt die Türkei sowie Rumänien weiter unter Druck. Der ganze Balkan gerät in Unruhe - und niemand weiß, wohin die Entwicklung führen wird, zumal Hitler, besorgt um das rumänische Öl, Stalin entgegentritt und auch England kräftig mitmischt.[lii]
Bereits 1939 war die dreijährige Wehrpflicht eingeführt und die Rüstung durch Arbeitspflicht, Drei-Schichtenbetrieb und Siebentagewoche noch weiter hochgetrieben worden.[liii] Nun werden die Streitkräfte durch eine Teilmobilmachung - Einberufung von 800 000 Reservisten weiter verstärkt[liv]
Stalin sichert das Operationsgebiet, indem er die gesamte Führungsschicht der Esten, Letten, Litauer und Ostpolen deportiert oder gleich ermorden lässt
In den vier westlichen Militärbezirken versammelt Stalin insgesamt 170,[lv] nach anderen Darstellungen 191 Divisionen. Zum Vergleich: Deutschland hat Russland mit etwas über 150 Divisionen angegriffen
Hinter den genannten wenigstens 170 Divisionen marschiert im Juni eine zweite strategische Staffel von 50, nach anderen Darstellungen 66 Divisionen auf, die aus dem Transbaikal und aus dem Kaukasus herangeführt werden
Hinter der zweiten strategischen Staffel werden vier Reservearmeen aufgestellt; mithin spricht sogar Gorodetsky von insgesamt 240 Divisionen, die die Westfront Russlands "absichern" sollen.[lvi]
Wer das alles als Verteidigungsvorbereitungen deutet, muss übersehen, dass der Aufmarsch der russischen ersten strategischen Staffel früher durchgeführt wurde und bis in den März 1941 erdrückend mehr Kräfte umfasste als der Aufmarsch für "Barbarossa":
Während des Frankreichfeldzugs stehen im Osten vier (oder sechs?) zweitklassige, erst 1939 mobilgemachte Divisionen 100 russischen Divisionen gegenüber
Im Juli 1940 wird die 18.Armee - 26 Divisionen - in den Osten verlegt
Im Oktober 1940 folgt die 12.Armee. Sie wird zusammen mit der 18.Armee der Heeresgruppe B unterstellt, die nun über 33 Divisionen verfügt
Im März 1941 stehen dann 47 Divisionen im Osten des Reiches - und erst dann beginnt der Truppenaufmarsch für Barbarossa
Erst im Juni wird das deutsche Ostheer mit der Zuführung von 12 Panzer- und 12 Motorisierten Infanteriedivisionen angriffsfähig.[lvii]
Insgesamt: Der deutsche Aufmarsch war bis in den März/April 1941 Reaktion, nicht Aktion. Die Deutung des russischen Aufmarsches als Offensivaufmarsch wird durch Weiteres bekräftigt:
Viele der Truppen mussten in die Wälder gelegt werden. Dort aber konnte man sie nicht unbeschränkt liegen lassen, ohne einen scharfen Abfall der Kampffähigkeit und Ausbildung zu riskieren
Ein bezeichnendes Detail: Die Dnjepr-Flottille (1 Abteilung Schnellboote, 1 Gruppe Kanonenboote, 1 Abt.Panzerkutter, 1 Abt.Monitore, 1 Abt.Minensucher, zudem Minenleger und Wachschiffe, Kommandeur in Admiral) wurde durch schmale Kanäle in die ostpolnischen Pripjet-Sümpfe verlegt.[lviii]Für eine Verteidigung war sie dort sinnlos. Aber sie hätte durch weitere Kanäle zur Weichsel, Oder und Ostsee fahren können - wie 1945 geschehen
Die stärksten Massierungen und die meisten Panzerverbände finden sich ausgerechnet in den weit in deutsches Gebiet vorspringenden Balkonen von Lemberg und Bialystok. Sie liegen dort für eine Verteidigung falsch, aber für eine Offensive günstig
Nachweislich liegen viele der Depots für Ersatzteile, Munition und Betriebstoff näher an der Grenze als die Truppenteile, die sich hieraus versorgen sollen. Allein in der Grenzstadt Brest-Litowsk lagern 10 Millionen Liter Betriebstoff[lix]
Sogar Flugplätze liegen 25 oder nur 15 Kilometer von der Grenze entfernt[lx]
Sowjetrussische Offiziere berichten in ihren Kriegserinnerungen, wie sie in der Stunde des deutschen Angriffs die versiegelten Umschläge mit den Kriegsbefehlen öffnen, aber keine Verteidigungsbefehle finden.[lxi] Das wird durch die Ereignisse bestätigt. Es gab zwar Feldbefestigungen, sogar Bunker, vor allem unmittelbar an der Grenze. Aber es gab keine tiefgestaffelten Feldbefestigungen, kaum Minensperren, keine Baumsperren und viele Brücken waren nicht zur Sprengung vorbereitet. Nur so ist erklärlich, dass die angreifenden deutschen Divisionen innerhalb von zwei Tagen bis zu 150 Kilometer weit vordringen konnten (3.Panzerdivision).[lxii]Dabei ist sicher: Hätten die russischen Divisionen, die seit vielen Monaten aufmarschiert waren, eine Verteidigung so vorbereitet wie die Rote Armee 1943 bei Kursk, so wäre der deutsche Angriff vielleicht sogar gescheitert.
Wie eilig Stalin es hatte, lässt sich wiederum aus seinen Maßnahmen ablesen. Im Frühjahr 1941 lässt er aus seinen Konzentrationslagern Hunderte, wenn nicht Tausende von Generalen und jüngeren Offizieren (insgesamt 4000 ?[lxiii])herausholen. Sie werden sofort wieder in ihre alten Funktionen gebracht. Stalin opferte also trotz der damit verbundenen Risiken seinen militärischen Plänen den innenpolitischen Terror.
Zur Frage des von Stalin geplanten Angriffstermins gibt es viele Indizien, doch fast alle werfen Probleme auf. Zwei typische Beispiele: Der spätere Marschall Bagramian berichtet in seinen Memoiren, dass die Divisionen der 2.Staffel des Westlichen Besonderen und des Kiewer Militärbezirks Mitte Juni (also etwa eine Woche vor dem deutschen Angriff) Befehl erhielten, in grenznahe Räume aufzuschließen.[lxiv] Man kann das als Zeichen dafür deuten, dass Stalins Überfall unmittelbar bevorstand. Man kann aber ebenso argumentieren, Stalin habe die strategischen Reserven herangeführt, um die Verteidigung zu stärken.
Weiterhin: Gern wird darauf verwiesen, dass Russland noch in der Nacht vor Kriegsbeginn vertragstreu an Deutschland lieferte. Man kann das als Zeichen für Stalins fast verzweifelt-blinden Friedenswillen werten. Doch ebenso ist möglich, dass Stalin Hitler täuschen wollte; nur ein Dummkopf würde durch Vertragsbruch vor seinem Angriff warnen. Beide Fälle wären nur zu entscheiden, wenn unverdächtige Quellen zur Verfügung stünden. Ähnliches gilt für viele andere Indizien aus den letzten Friedenswochen.[lxv] Allgemein wird man sagen dürfen: Beide Seiten, also auch Stalin, müssen etwa ab April, spätestens ab Mai den Aufmarsch des Gegners erkannt haben. Alle seitdem von ihnen getroffenen Maßnahmen lassen sich, nach nach Präferenz des Betrachters, als Angriffs- und als Verteidigungsmaßnahmen deuten. Sie eignen sich demnach kaum zur Stützung oder zur Widerlegung irgend welcher Thesen.
Damit zum Schluss der Betrachtung der Sowjetunion. Zusammenfassend darf man sagen:
Stalin hatte in einem verarmten Land eine riesige Militärmacht aufgebaut
Stalins Armee war so konstruiert, dass sie weiträumige Operationen bis ins Herz Europas führen konnte
Diese Armee war schon 1940 und noch mehr 1941 mit Kräften aufmarschiert, die den deutschen weit überlegen waren
Es war ein Offensivaufmarsch
Der Aufmarsch war weitgehend abgeschlossen; Stalin konnte in wenigen Tagen, vielleicht Wochen angreifen - falls er es wollte
Für diese Bewertungen lassen sich Belege, sogar Beweise vortragen. Aber sogar ein Verfechter der These eines grundlosen deutschen Überfalls gesteht noch im Jahr 2000 zu, "dass die Frage der tatsächlichen Absichten Stalins noch immer nicht geklärt ist und dass in dieser Hinsicht ein gravierender Mangel an Quellen besteht."[lxvi] Folglich lassen sich wichtige Fragen kaum klären:
Wir wissen nicht, ob Stalin im Juni 1941 den russischen Aufmarsch als abgeschlossen ansah
Mithin wissen wir nicht, ob Stalin die Rote Armee als angriffsbereit beurteilte
Insbesondere wissen wir nicht, ob Stalin die Reorganisation der Panzer-Großverbände als ausreichend fortgeschritten ansah
Wir wissen nicht, ob Stalin den deutschen Aufmarsch als abgeschlossen, mithin den Angriff als bevorstehend ansah
Noch wichtiger: Wir wissen nicht, ob Stalin die politische Lage als angriffsgünstig ansah oder ob er noch weiter warten wollte. Allerdings: Der Truppenaufmarsch setzte auch einen Diktator unter Zeitdruck. Stalin würde seine Truppen ruinieren, wenn er sie unbeschränkt, schließlich mit dem Winter vor der Tür, in den Wäldern ließ. So spricht vieles für die - freilich unbeweisbare - Annahme, dass Stalin binnen weniger Wochen zum Schwert gegriffen hätte.
Dem steht ein häufig zu findendes Argument entgegen. Es gründet sich darauf, dass Stalin 1937/38 bei den großen Säuberungen, also Massenmorden, zahlreiche hohe Generale beseitigt hatte, dabei drei der fünf Marschälle, 13 der 15 Armee-Oberbefehlshaber, 57 der 85 Kommandierenden Generale von Armeekorps und 110 der 195 Divisions- sowie die Hälfte der 406 Brigadekommandeure.[lxvii] Stalin habe gewusst, dass nach diesem Aderlass die Rote Armee für Jahre nicht einsatzbereit war.
Doch dieser Deutung steht Stalins grundlegende Weisung für den Kriegsfall vom 18.September 1940 deutlich entgegen.[lxviii] Sie sah, ebenso wie die späteren Operationspläne und -vorschläge, nach einer möglichst kurzen Verteidigung als erste Phase eine Offensive bis in den Raum um Breslau mit Alternativen zum Abschneiden Deutschlands vom Balkan oder zur Wegnahme von Ostpreußen vor. Stalin war also nachweislich schon im September 1940 überzeugt, dass die Rote Armee gewaltige Operationen durchführen konnte.
Hitlers Zwangslage und Pläne
Damit hinüber zur deutschen Seite. Sogar wenn nachweisbar wäre, dass Stalin im Sommer 1941 angreifen wollte, so bleibt die Möglichkeit, dass zwei Angriffe aufeinander getroffen sind, wie 1940 in Norwegen.
Die Literatur über die Entstehung des deutsch-sowjetischen Krieges ist randvoll gefüllt mit Zitaten Hitlers über die Erweiterung des deutschen Lebensraumes. Doch das beweist ebenso viel und ebenso wenig wie Zitate aus der kommunistischen Ideologie. Die Zitate belegen höchstens einen generellen Kriegwillen. Aber sie zeigen nicht, warum Hitler 1941 statt 1942 oder 1945 angriff. Den Juni 1941 müssen zusätzliche Gründe bestimmt haben, nach denen wir suchen müssen.
Weiterhin: Der eingangs erwähnte Artikel aus "DIE ZEIT" war reichlich illustriert mit Bildern von Exekutionen russischer Partisanen oder Zivilisten. Doch auch Bilder von Dresden, Nagasaki oder von der Vertreibung der Ostdeutschen tragen nichts zur Klärung der Frage bei, wie es zu den Kriegen 1939 und 1941 gekommen ist. Derartiges emotionalisiert nur.
Noch eine Vorbemerkung: Diese Studie verzichtet auf eine Darstellung sowie Bewertung der russischen Operationsentwürfe und Kriegspiele, wie etwa dem sowjetischen Aufmarschplan vom 15.Mai 1941,[lxix] über deren Deutung längst ein heftiger Federstreit um Überlieferung, Glaubwürdigkeit und Bedeutung entstanden ist.[lxx] Sie verzichtet auch auf Zitate aus Reden und ähnlichem, wie etwa der vieldiskutierten Ansprache Stalins am 5.Mai 1941 vor Absolventen der Militärschulen. Nicht nur, weil der Raum fehlt. Sondern auch, weil schon Talleyrand darauf verwiesen hat, dass für einen Politiker Worte nur ein Mittel sind, seine Gedanken zu verbergen.
Bei jeder Äußerung von Stalin, Hitler und anderen Politikern müsste also untersucht werden, wie glaubwürdig die Überlieferung ist, was die Politiker mit ihrer Äußerung bezweckten und ob diese Äußerung ihre inneren Gedanken spiegelte. Immerhin läßt sich sogar mit unstrittigen, aber zielgerichtet ausgesuchten Zitaten alles "beweisen". Als Beispiel: Die Verfechter der These eines grundlosen Überfalls Hitlers zitieren meist ausführlich Hitlers Lebensraum- und Rassetheorien.[lxxi] Aber Hitler hat schon in "Mein Kampf" mit gleicher Eindringlichkeit vor einem Zweifrontenkrieg gewarnt - doch das wird selten zitiert.
Man wird also gut tun, die Äußerungen Stalins und Hitlers streng nach ihren Taten zu beurteilen. Nur Taten zeigen, was die beiden wirklich wollten.
Die ersten "Taten" Hitlers für einen Angriff auf die Sowjetunion stammen aus dem Hochsommer 1940. Hitler wies die Wehrmacht an, "das Problem Russland in Angriff zu nehmen". Am 31.Juli verkündete er vor den Spitzen der Wehrmacht sogar: "Entschluss: ... Russland muss erledigt werden. Frühjahr 1941. Je schneller wir Russland zerschlagen, um so besser ... Bestimmer Entschluss: Russland zu erledigen."[lxxii]
Aber dann folgte nichts mehr. Bis zum November 1940 hat Hitler nicht einmal gefragt, zu welchen Ergebnissen die Operationsstudien der Wehrmacht gekommen wären. Das widerspricht einem unabänderlichen Entschluss und sogar einem starken Interesse. Immerhin hatte sich Hitler schon in die Planung des Frankreichfeldzuges von Anfang an eingemischt,[lxxiii] und seitdem war sein Glaube an seine militärischen Fähigkeiten weiter gestiegen. Zudem verbot Hitler sogar jede Spionage gegen Russland[lxxiv], obwohl die russische Spionage auf hohen Touren weiterlief.[lxxv] Wer unbedingt will, kann das als Tarnung finsterer Absichten deuten. Aber nicht einmal das wertvolle rumänische Material durfte angekauft werden.[lxxvi]
Zudem hat Hitler nachweislich bis in den November 1940 hinein gehofft, Russland für einen Kontinentalblock aus Deutschland, Italien und Japan gegen die angelsächsischen Mächte gewinnen zu können. Am 26.September schlug der Oberbefehlshaber der Marine Hitler vor, den Schwerpunkt der deutschen Kriegführung gegen England über den Suezkanal in den Nahen Osten zu verlegen und setzte hinzu: "Russlandproblem erhält dann anderes Aussehen ... Fraglich, ob dann noch Vorgehen gegen Russland .. nötig sein wird." Hitler stimmte zu und ergänzte: "Russland werde er zu veranlassen suchen, energisch gegen Süden - Persien, Indien - vorzugehen." Am 1.November 1940 notiert der Chef des Generalstabes (Halder): "Führer hofft, Russland in die Front gegen England einbauen zu können."[lxxvii]
Der Umschwung tritt mit dem Besuch des russischen Außenministers Molotow im November 1940 in Berlin ein.[lxxviii] Hitler versuchte, Russland in einen deutsch-italienisch-japanischen Kontinentalblock zu ziehen - ein weiteres Zeichen dafür, dass er zu einem Krieg gegen Russland noch nicht endgültig entschlossen war. Molotow hat hingegen Forderungen gestellt: Vorherrschaft über die türkischen Meerengen, Vorherrschaft über den Balkan sowie Vorherrschaft über Finnland und hat deutlich sein Interesse an den dänischen Ostseezugängen bekundet.
Das hätte das rumänische Öl und das finnische Nickel in sowjetische Hand gebracht, vielleicht auch das schwedische Erz. Alle Kraftquellen der deutschen Kriegführung wären dann in sowjetischer Hand gewesen. Was Stalin forderte, war praktisch Unterwerfung. Und zur Untermalung dieser Forderungen standen schon einhundert sowjetische Divisionen an den Westgrenzen Russlands, ihnen gegenüber (außer den Ungarn und Rumänen) nur 33 deutsche.[lxxix]
Was Stalin glaubte, Hitler zumuten zu können, macht eine Facette deutlich. Eine gute Woche nach dem Molotow-Besuch, am 25.11.40, fixierte Molotow seine Forderungen noch einmal schriftlich. Erneut forderte er dabei eine Basis für sowjetrussische Truppen am Bosporus und den Dardanellen. Falls (wie doch anzunehmen), die Türken sich weigerten, müssten "Deutschland, Italien und die Sowjetunion übereinkommen, die erforderlichen militärischen und diplomatischen Maßnahmen auszuarbeiten und durchzuführen."[lxxx] Mit anderen Worten: Deutsche Truppen sollten notfalls gemeinsam mit den Russen in der Türkei Stützpunkte für die Sowjetunion erobern. Stalins Zumutungen lassen nur zwei Deutungen zu: Er glaubte, Hitler, zwischen Sowjetarmee und England/USA eingeklemmt, sähe sich gezwungen, sich der Sowjetunion auf Gnade und Ungnade unterwerfen. Oder Stalin wollte Hitler bewusst zum Angriff provozieren. Welche der Möglichkeiten zutrifft, lässt sich aus Quellenmangel nicht entscheiden.
Mithin ist kein Zufall, dass zwar manch einer in der deutschen Führung sowjetische Angriffsabsichten verneinte, der Chef des Generalstabes und der "Spionagechef" jedoch anders urteilten - Fachleute also, die wahrlich nicht zu den "Nazis" gehörten. Halder notierte, man müsse zugeben, "dass die russische (Militär)Gliederung sehr wohl einen Übergang zum Angriff ermöglicht".[lxxxi] Canaris, der als Hitler-Gegner die Grenze zum Hochverrat längst nicht mehr fürchtete, sie vielleicht schon überschritten hatte, unterstützte dennoch die Vorbereitungen für den Russlandfeldzug. Er war von "echter" Furcht "vor der sowjetischen Gefahr" erfüllt und wusste nicht mehr, "ob Hitler oder Stalin zuerst losschlagen werde" (H.Höhne).[lxxxii] Nicht umsonst ergingen Befehle an das deutsche Ostheer für den Fall eines russischen Überfalls. Noch sechs Tage vor Barbarossa 1941 erließ die Panzergruppe 1 eine Weisung für den Fall eines sowjetischen Überraschungsangriffs mit der einleitenden Bemerkung: "Der russische Aufmarsch uns gegenüber läßt auch eine Angriffslösung gegen uns zu."[lxxxiii]
Schließlich hat Hitler wohl auch erkannt, dass Stalin einen deutschen Sieg kaum zulassen, also sich zum Handeln gezwungen sehen konnte. Hitler äußerte, er sei sich "völlig" klar darüber, dass nach einem vollen Sieg Deutschlands die Lage Russlands "sehr schwierig" werden würde. Das musste zu der Überlegung führen, Russland zu beseitigen, ""ehe es sich mit England zusammentun könne" (Hitler).[lxxxiv]
Aus Sicht der Reichsführung war demnach bei Abreise Molotows die weltweite Lage etwa wie folgt:
England war entschlossen, den Krieg bis zu einem Sieg, und das bedeutete: bis zu einem Super-Versailles durchzukämpfen, beflügelt von der Hoffnung auf ein Eingreifen der USA - und Russlands
Die USA waren nur noch theoretisch neutral; auf dem Atlantik führten sie praktisch schon Krieg; Hitler rechnete mit einem offenen Kriegseintritt 1942
In Fernost hatten Japan und Russland eben noch einen unerklärten Krieg geführt. Deshalb konnte Japan keine amerikanischen Kräfte binden. Das gab den USA freie Hand gegen Deutschland
Schließlich Russland. Solange Sowjetrussland ungeschlagen blieb, konnte England auf sein Eingreifen hoffen, war Japan gebunden und konnte die USA nicht zurückhalten
Zudem hatte Russland innerhalb eines Jahres buchstäblich sämtliche Grenzpfähle zwischen dem Nordmeer und dem Schwarzen Meer gewltsam nach Westen verschoben. Dieses Russland verlangte nun von Deutschland, sich in eine totale wirtschaftliche Abhängigkeit von Stalin zu fügen. Was Stalin anschließend fordern würde, war unbekannt
Ganz düster wurde es, wenn man den Blick in die Zukunft richtete. Schon 1942 würden die USA und England voll im Kriege stehen. Dann war Russland praktisch Schiedsrichter in einem globalen Konflikt. Nach Verwirklichung von Molotows Forderungen konnte Russland nach Belieben Deutschland kämpfen lassen, weiter erpressen oder wirtschaftlich erdrosseln. Oder es konnte als lachender Dritter in die Schlußphase des Konflikts bewaffnet eingreifen.
Angesichts dieser Lage haben die Militärs Hitler versichert, ein Sieg binnen weniger Monate wäre möglich;[lxxxv] sie haben damit eine schwere Verantwortung auf sich geladen. Für Hitler konnte es damit kein Halten mehr geben. Mit Lebensraum, Rasse und Aggression hat das nur wenig zu tun; auch Gorodetsky, Israeli und wahrlich ein Verfechter der Überfallthese, sieht "ernste" Zweifel, dass bei Hitlers Entschluss "ideologische Überlegungen eine Rolle spielten".[lxxxvi]
Um so mehr hat es mit Deutschlands geographischer Lage zu tun, deren Konsequenzen sich gut mit einem Parallelbeispiel zeigen lassen. Während des deutsch-französischen Kriege 1870 spielte Österreich-Ungarn sehr ernsthaft mit dem Gedanken, Preußen-Deutschland in den Rücken zu fallen. Doch ein drohendes Knurren des Zaren zwang den österreichischen Ministerpräsidenten Graf Beust, seine Pläne aufzugeben.[lxxxvii] Das Beispiel zeigt: Deutschland, mitten in Europa liegend, konnte einen Krieg nach der einen Seiten nur führen, wenn die Großmacht auf der anderen Seite freundlich gesonnen war. Als Hitler nach Westen Krieg führte und im Osten Stalins Wohlwollen in Zweifel geriet, stand Deutschland sofort zwischen zwei Feuern. Es konnte nur noch versuchen, sich der tödlichen Gefahr durch einen Befreiungsschlag gegen Russland zu entziehen, denn England war nicht fassbar.
Vor dem Schluss dieser Darlegungen ist noch einmal ein Hinweis auf die einleitenden Bemerkungen notwendig. Die Aktenlage für die Erforschung der Kriegsursachen 1941 ist dürftiger als wohl für alle Kriege der Neuzeit, und was vorhanden ist, ist alles andere als zweifelsfrei. Wer also behauptet, er kenne die Kriegsursachen 1941 und könne sie unwiderleglich und abschließend darlegen, muss sich Fragen nach seiner Seriosität gefallen lassen.
Vermutlich können wir drei Thesen ausschließen:
Als erstes die These, 1941 wäre ein unbedingt friedlicher Stalin angegriffen worden, also jene politisch korrekte These, die Medien und Schulbücher beherrscht
Ein weiterer Schluss ergibt sich aus der Tatsache, dass der Aufmarsch von 150 deutschen Divisionen sowie der Luftwaffe nicht unbemerkt bleiben konnte, zumal Stalin nachweislich zusätzlich zahlreiche Warnungen erhielt. Demnach ist unmöglich, dass Stalin vom deutschen Angriff strategisch überrascht wurde. Auch ist wenig glaubwürdig, Stalin habe trotz des deutschen Aufmarsches noch Mitte Juni 1941 geglaubt, den Frieden längerfristig oder gar langfristig wahren zu können. Bestenfalls möglich und zudem sogar wahrscheinlich ist, dass Stalin taktisch, also vom Zeitpunkt des Angriffs, überrascht wurde
Auszuschließen ist wohl auch die These, der deutsche Angriff wäre ein Präventivkrieg in dem Sinne gewesen, dass ein unbedingt und langfristig friedlicher Hitler den sowjetischen Aufmarsch bemerkt und ihm schweren Herzens zuvorgekommen wäre.
Für die geopolitische Lage, für die ideologischen Kräfte, für die Handlungen Stalins sowie Hitlers scheint das folgende Modell die beste Erklärung zu geben:
Stalin wäre schon nach einem hitlerschen Remis gegen England in eine böse Abhängigkeit von Großdeutschland geraten. Das konnte kein Herrscher Russlands leichten Herzens zulassen. Ideologische Gründe mögen den resultierenden Entschluss zum Aufmarsch und zu einer ausgesprochen aggressiv-provokatorischen Westpolitk bestärkt haben.
Die Zwangslage Stalins war für Hitler erkennbar. Hitler konnte den Krieg gegen England, praktisch also auch gegen die USA, nur führen, wenn er seinen Rücken sicher wusste. "Barbarossa" wäre nur zu vermeiden gewesen, wenn Stalin Deutschland offensichtlich ebenso freundlich gesinnt gewesen wäre wie der Zar 1870.
Abschließend könnte man fragen, wo bei dieser Schilderung die deutschen Untaten blieben? Zweifellos hat Hitler den Krieg, nachdem er einmal beschlossen war, für große Untaten genutzt. Doch die Nutzung des Krieges für Taten, die im 18. und 19.Jahrhundert nur für Verbrecher denkbar gewesen sind, lässt sich für alle beteiligten Staaten nachweisen - bis hin zu Jalta, Potsdam und Nagasaki. Doch die Rebarbarisierung des Krieges im 20.Jahrhundert darzulegen und ihre Gründe aufzuzeigen, war nicht das Thema dieser Studie.[lxxxviii]
Die Ursachen des Scheiterns
Es bleibt noch, zu einigen wichtigen Fragen Stellung zu nehmen, die sich aus der Vorgeschichte des Russlandfeldzuges ergeben.
Wie dargelegt, war die Rote Armee im Juni 1941 der deutschen Wehrmacht an allem, was sich zählen, wiegen und messen lässt, turmhoch überlegen. Dem scheint zu widersprechen, dass die Wehrmacht schon im November 1941 an die Tore von Moskau pochte und mit Artillerie auf den Kreml schoss.[lxxxix] Doch der Schein trügt. Schon im Frankreichfeldzug war die Wehrmacht an allem, was sich zählen, wiegen und messen lässt, den Alliierten weit unterlegen,[xc] und zudem konnten sich die Alliierten auf gigantische Befestigungen stützen. Dennoch hat die Wehrmacht den Feldzug buchstäblich in vier oder fünf Tagen entschieden, in zehn Tagen gewonnen und in wenigen Wochen beendet. Ein ähnliches Bild zeigt schon der Erste Weltkrieg (Tannenberg) und, in verkleinertem Maßstab, die Schlacht um Kreta 1941:[xci] Scheinbar hoffnungslose deutsche Unterlegenheit an Zahl und Material - dennoch Sieg in wenigen Tagen. Der Grund liegt auch hier, ebenso wie bei den Siegen der Wehrmacht 1941, in der qualitativen Überlegenheit - vom Gruppenführer bis zum hohen General. Hierüber gibt es eine umfangreiche ausländische Literatur - die allerdings in der Bundesrepublik fast unbeachtet blieb.[xcii] Die qualitative Überlegenheit der Führung und des Kampfwillens der Truppe haben lange die numerische Unterlegenheit ausgleichen können. Beim Russlandfeldzug traten weitere Faktoren verstärkend hinzu: Der deutsche Angriff traf auf einen Gegner, der zur Offensive aufmarschierte, dessen Aufmarsch aber noch nicht ganz abgeschlossen war und der taktisch überrascht wurde.
Die Frage, ob im Zweiten Weltkrieg ein Sieg oder ein Remis unter Hitler einem Jalta und Potsdam vorzuziehen war, ist nicht Thema dieser Ausführungen. Mithin bleibt die Frage berechtigt, warum der Feldzug gescheitert ist.
Der erste Grund liegt in der fast grotesken Unterschätzung der Widerstands- sowie Regenerationskraft Sowjetrusslands. Sie wird deutlich in dem Urteil des Chefs des Generalstabes Halder, der am 12.Tag des Russlandfeldzuges in seinem Tagebuch notierte, der Feldzug sei gewonnen, er müsse nur noch beendet werden.[xciii]
Die Unterschätzung hat zu einem zweiten Grund des Scheiterns wesentlich beigetragen: Das Reich hat sein Potential viel zu spät mobilisiert. So wurden zum Beispiel 1941 nur 3500 Panzer produziert[xciv] - und das waren meist leichte Panzer. Folglich mussten immer wieder Besatzungen ausgefallener Panzer als Infanterie eingesetzt werden, weil Ersatzpanzer nicht vorhanden waren. 1944 wurden sechsmal mehr, wurden 20 000 Panzer produziert, nur schwere Panzer,[xcv] und das trotz der Luftangriffe. Viele Schlachten wären wohl anders verlaufen, wenn die Truppe 1941 die Waffen von 1944 gehabt hätte.
Das gleiche Bild zeigt die Mobilisierung der Arbeitskräfte. Es ist bezeichnend, dass die Zahl der arbeitenden Frauen von 1939 (14,6 Millionen) bis 1941 sank (14,1 Mio) und erst 1943 die Zahl von 1939 wieder erreichte und leicht überschritt (14,8 Mio). Gleichzeitig wurden Millionen von männlichen Arbeitskräften einberufen. Mithin sank, während die Rüstungsindustrie nach Arbeitskräften und die Front nach Waffen schrie, die Zahl der deutschen Arbeitskräfte von 1939 bis 1941 um sechs Millionen. Diese Lücke konnten auch drei Millionen Kriegsgefangene und Ausländer nicht schließen.[xcvi] Was möglich und zu tun war, hat nicht nur die Sowjetunion, sondern haben auch die USA gezeigt. In den USA stieg die Zahl der arbeitenden Frauen von 1940 (14 Prozent), identisch mit Deutschland, auf 20 Prozent.[xcvii]
Ins Allgemeine gehoben: Das Reich hat, ähnlich wie schon im Ersten Weltkrieg, sein Potential viel zu spät mobilisiert. Es begnügte sich mit einer "friedensähnlichen Kriegswirtschaft".[xcviii] Die Gründe zu erörtern, ist hier nicht der Ort.
Der dritte Grund für das Scheitern des Russlandfeldzugs liegt in einer Operationsführung, die von Anfang an widersprüchlich war. Hitler wollte die Schwerpunkte an den Flügeln setzen: Der linke Flügel sollte Leningrad nehmen, der rechte Flügel sollte die Industriegebiete der Ukraine und dann das Öl des Kaukasus nehmen oder bei Stalingrad abschneiden. Erst nachdem die Rote Armee ihrer wirtschaftlichen und industriellen Kraftquellen beraubt worden war, sollte sich die Wehrmacht gegen die so geschwächten Hauptkräfte des Gegners wenden. Der Generalstab des Heeres hingegen lehnte die Einbeziehung wehrwirtschaftlicher Gesichtspunkte in die militärische Operationsplanung ab.[xcix] Er wollte nach den Grenzschlachten geradewegs auf Moskau vorgehen, also den Stier frontal bei den Hörnern packen, denn im Zentrum des sowjetischen Imperiums werde sich die Rote Armee zur Entscheidungsschlacht stellen müssen.
Vermutlich spricht vieles für die Flankenlösung.[c] Sicher ist jedoch, dass Schwanken den Fehlschlag heraufbeschwören musste - und so ist es gekommen.[ci] Leningrad konnte abgeschnitten, nicht aber genommen werden, der Vorstoß auf Moskau blieb stecken und der Vorstoß in die Ukraine kam so langsam voran, dass Stalin 1523 Fabriken abbauen und im Ural wiederaufbauen konnte. Mithin produzierte die Sowjetunion schon 1943 wieder doppelt so viele Panzer wie die Wehrmacht für den Krieg an allen Fronten.[cii]
Doch auch das war nur ein Nebengrund für das Scheitern des Russlandfeldzugs. Auch dieser Feldzug gehört zu jenen, die militärisch ausgefochten, aber politisch gewonnen oder verloren werden.
Sicherlich gibt es Kriege, bei denen die Politik sich darauf beschränken kann, eine übermächtige Koalition zu schmieden. Die Soldaten zerschmettern dann den Gegner - so wie die Alliierten zuletzt im Golfkrieg 1991. Aber Deutschland war 1914 und 1939 in einer anderen Lage. Um den Gegner mit militärischen Mitteln zu zerschmettern, hätte das Reich Paris, London, Wladiwostok und wohl auch Washington sowie Los Angeles erobern müssen.
Folglich war der Russlandfeldzug nur politisch, wenn auch natürlich mit militärischer Unterstützung, zu einem tragbaren Ende zu bringen. Es ging darum, den Russen eine Alternative zu bieten, die besser als das Leben unter Stalin war. Die Voraussetzungen hierfür waren vortrefflich. Mehr als eine Million Russen haben im Zweiten Weltkrieg unter deutschen Fahnen gedient, meist wohl nicht, um das Hakenkreuz zu stützen, sondern um Hammer und Sichel zu stürzen. Das war einzigartig in der Geschichte der Kriege. Um noch mehr Kräfte zu mobilisieren und den Russlandfeldzug zu gewinnen, hätte das Dritte Reich den Menschen Russlands mehr bieten müssen als eine von Hitler und Himmler beherrschte Zukunft. Doch dazu hätte eben Hitler nicht Hitler und Himmler nicht Himmler sein dürfen.
Allerdings kann man das Argument weiterführen. Viele der in Stalingrad gefangengenommenen deutschen Offiziere haben sich dem sowjetgesteuerten Nationalkomitee Freies Deutschland oder dem Bund Deutscher Offiziere angeschlossen - meist wohl nicht, um Hammer und Sichel zu stützen, sondern um das Hakenkreuz zu stürzen. Das war einzigartig in der Geschichte der Kriege. Um noch mehr Kräfte zu mobilisieren und den Krieg rascher sowie mit weniger Opfern zu gewinnen, hätten die Alliierten den Deutschen nur mehr bieten müssen als eine von Jalta und Potsdam, also von einem Super-Versailles beherrschte Zukunft. Doch dazu hätte eben Stalin nicht Stalin, Roosevelt nicht Roosevelt und Churchill nicht Churchill sein dürfen.